«Das alles will man ja gar nicht wissen»

Der Ernährungswissenschaftler Udo Pollmer über die wahren Ursachen von Rinderwahn und die Gründe, wieso Politiker und Wissenschaftler unbequeme Einsichten totschweigen

Interview: Matthias Meili

[Udo Pollmer: Wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissensschaften in Hochheim.]

Weltwoche: Herr Pollmer, aus der Distanz betrachtet: War die Hysterie um BSE Ende des vergangenen Jahres berechtigt?

Auf der einen Seite schätze ich das Theater auch als eine Hysterie ein, weil ich viele andere Risiken kenne, die mindestens ebenso gross sind, um die sich aber keiner kümmert. Das betrifft auch Zoonosen, also Keime im Fleisch wie bei BSE. Andererseits hat die Hysterie auch einen Grund. Sie können das nicht abtun mit dem Hinweis, die spinnen alle. Im Grunde geht es um den tiefen Graben zwischen der Realität und den Illusionen, die man den Menschen vorgaukelt. Die Lebensmittelindustrie stellt der Öffentlichkeit in ihrer Werbung oder in der Medienarbeit ein Bild von den Nahrungsmitteln und ihrer Produktion vor, das etwa dem 19. Jahrhundert entspricht. Im Schlepptau hat sie Professoren und Wissenschaftler und andere Leute, die sich freuen, wenn sie von der Wirtschaft Aufträge bekommen oder auch einmal zum Essen eingeladen werden. Die werden dann natürlich das bestätigen, was diese Wirtschaftsgruppe hören will. Vor wenigen Tagen beklagte sich ein hochrangiger Politiker bei mir: Wissen Sie, was mich am meisten ärgert, ist, dass uns die ganzen hoch bezahlten Experten schlicht angelogen haben.

Das geht auf keine Kuhhaut...

Richtig, und auf einmal ist ein Rind, das nicht einmal aus einem industriellen Landwirtschaftsbetrieb, sondern von einem ganz normalen Landwirt stammt, der sauber gearbeitet hat, an BSE erkrankt. Und was machen wir in Deutschland: Wir schlagen zuerst einmal alles tot, in der Hoffnung, dass wir damit das Problem gelöst hätten. Das ist die klassische Regel aus dem Mittelalter: Erschiess den Boten der schlechten Nachricht.

Aber man hat jetzt doch Massnahmen eingeleitet?

Das ändert nichts, weil die Massnahmen, die man eingeleitet hat, das Problem verschärfen statt lösen. Zum Beispiel dieses obskure Tiermehlverbot: In Grossbritannien deckt sich das Auftreten von BSE gerade nicht mit der Verfütterung von Tiermehl. Bisher gelang es den Forschern nicht einmal, mit Hirn von an Scrapie erkrankten Schafen beim Rind BSE auszulösen. Es muss also noch weitere Übertragungswege geben. Man hat in der Zeit, wo man billig hätte handeln können, nichts getan, obwohl alle wussten, was zu tun wäre. Alle wussten das. Man wusste genau, dass man das Hirn und die Augen und von mir aus das Rückenmark aller Rinder, gleich welcher Nationalität, entfernen muss. Damit wäre das Risiko für den Verbraucher mit geringem Aufwand auf ein Minimum reduziert worden. Das Problem wäre vom Tisch, aber man hat es nicht getan. Man hat die Leute das Zeug essen lassen, hat versucht, in Deutschland den Test so lange wie möglich hinauszuzögern, und dann kam der tiefe Sturz.

In der Schweiz sind die Massnahmen schon lange ergriffen worden, die Tiermehlverfütterung an Wiederkäuer ist seit 1990 verboten. Trotzdem haben wir immer noch BSE-Fälle.

Das einzige Land, das BSE ernst genommen hat, ist die Schweiz. Aus diesem Grund wurden in dieser kleinen Enklave inmitten der grossen EU die meisten BSE-Rinder entdeckt, obwohl das Vieh auf den Alpen kaum britisches Fleischmehl frisst. Natürlich werden weitere BSE-Fälle auftreten, weil die Übertragungswege nicht nur über das Tiermehl laufen. Das ist so eine Lebenslüge der Politik.

Wie bitte?

Das Tiermehl spielt wahrscheinlich eine wichtige Rolle, aber die BSE-Geschichte hat einen anderen Ausgangspunkt: Vor einiger Zeit hat die britische Mikrobiologin Anne Maddocks nach ihrer Pensionierung ausgeplaudert, was der wahrscheinlichste Grund ist. Und zwar haben die Briten - vermutlich auch andere - ihre Rinder mit Wachstumshormonen der Hypophyse, der Hirnanhangdrüse, behandelt. Darunter war wohl ein so genannter sporadischer BSE-Fall dabei. Die gibt es nämlich schon lange. Der erste sporadische BSE-Fall ist 1883 beschrieben worden.

Aber dann lief es über das Tiermehl?

Wenn sie da ein BSE-Rind dabei hatten, dann hatten sie mit den Wachstumspräparaten den Erreger bereits auf Tausende Rinder verteilt. Von der Hypophysentheorie gibt es einen nachgewiesenen Fall bei Menschen: Die Franzosen haben Ende der achtziger Jahre zwergwüchsige Kinder mit Hypophysenmaterial behandelt. Sie wollten dazu kein gentechnisches Hormon nehmen und haben natürliches Material von menschlichen Gehirnen benutzt. Mit der Folge, dass in Frankreich Dutzende von Kindern an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit starben. Daher wissen wir, dass dieser Infektionsweg kein hypothetischer ist.

Aber diese Behandlung wurde dann ja gestoppt, und BSE breitete sich in Grossbritannien immer weiter aus.

Um das Ganze zu verstehen, muss man noch eine Geschichte erklären, die sich in Island mit Scrapie, dem Schafswahnsinn, ereignet hat. Dort hatten sie in den fünfziger Jahren eine Scrapie-Epidemie. Nachdem sie zuerst so reagiert hatten wie die Deutschen und die Engländer auch und die Schafherden vernichteten und danach beinahe mehr Scrapie hatten als vorher, hat man das untersucht. Das Ergebnis: Es hat sich gezeigt, dass der Erreger in blutsaugenden Milben enthalten sein kann, die als Vektoren fungieren. Diese Milben befallen Mäuse, worauf auch die Mäuse eine Scrapie-ähnliche Krankheit erhalten haben. Man konnte also zeigen, dass diese Milben den Erreger übertragen. Wenn man akzeptiert, dass die Eintrittspforte Blut sehr leicht zu überschreiten ist, während die Eintrittspforte Mund sehr schwer zu überwinden ist, dann stimmt diese Hypothese mit der Hypophysenhypothese, die den Ursprung der Epidemie darstellt, überein. An diese Untersuchungen aus den fünfziger Jahren erinnert sich heute ja keiner mehr. Wenn wir Vektoren wie die Milben oder einen Virus als Überträger haben, werden spontan immer wieder Fälle auftreten. Das beweist auch, dass viele verschiedene Tier-arten, auch Pflanzenfresser unter den Wildtieren, daran erkranken. Also kann das nicht nur über das Fleischmehl übertragen werden.

Wie erklären Sie sich damit die Kuru-Krankheit, die unter den Eingeborenen Neuguineas wütete, weil, wie man so sagt, diese Leute Kannibalen waren?

Zunächst einmal ist es so, dass Kuru bei dem Stamm der Foré in Neuguinea nicht seit Urzeiten existierte. Mir sagte ein Experte, der die Foré besucht hat, dass sich die alten Leute daran erinnerten, dass es eine Zeit gab ohne Kuru. Also muss es eingeschleppt worden sein. Dann hat man versucht den Zeitpunkt des ersten Auftretens zu identifizieren, und dieser Zeitpunkt fällt mit einem bestimmten Ereignis zusammen.

Dem Auftreten von Milben?

Nein. Aber es gibt eine bestimmte Erklärung, die plausibel ist, aber noch keinen Beweis darstellt, das möchte ich betonen. Am Ende des Ersten Weltkrieges wurde eine deutsche Missionsstation an der Mündung des Flusses errichtet, dessen Quelle im Gebiet des Stammes der Foré liegt. Sie begannen dort mit der Schafzucht, und dafür mussten sie nicht nur die Schafe, sondern auch das Futter für die lange Reise mitbringen, vor allem aus Australien. Im importierten Futter wanderten wohl auch Mäuse und mit ihnen Parasiten ein. Diese Mäuse haben dann die Parasiten über Wassermäuse flussaufwärts weitergegeben. Die Jungen der Foré pflegten diese Mäuse zu fangen und dann zu verzehren. Es kann gut sein, dass der Kuru-Erreger so eingeschleppt worden ist.

Diese Vektortheorie widerspricht fundamental der Tiermehlhypothes...

Diese Hypothese findet natürlich keine Beachtung. Denn in dem Moment, wo sich die Fleischmehlhypothese als falsch erweisen würde, wäre das Desaster doppelt so gross. Man hätte volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe erreicht, man hätte zudem Menschenleben gefährdet. Dass aber diese Milbenhypothese nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt eine entsprechende Publikation in der Medizinzeitschrift «The Lancet» aus dem Jahre 1996. Das Fleischmehl kann, muss aber nicht eine entscheidende Rolle gespielt haben. Man müsste sowieso einmal nachprüfen, was dieses Fleischmehl wirklich bewirkt. Diese Hypothese ist nicht durch Experimente gesichert, sondern durch Übereinkunft der verschiedenen Interessengruppen.

Jetzt gibt es eine dritte Hypothese, die Phosmet-Hypothese. Danach soll ein Nervengift, das man den Kühen auf den Rücken giesst, einen Zusammenhang mit dem Rinderwahnsinn haben. Was ist davon zu halten?

Was die Phosmet-Hypothese betrifft, sagt Mark Purdey - ein Biobauer, der das seit Jahren untersucht -, dass das technische Phosmet, das zur Bekämpfung der Dasselfliege eingesetzt wird, eine wichtige Rolle gespielt hat. Dieses ungereinigte Phosmet enthält einen neurotoxischen Stoff, der laut Purdey die Wahrscheinlichkeit der Bildung von verdrehten Prionen verstärkt und so die Anfälligkeit der Rinder auf BSE erhöht. Da gibt’s noch ein paar Hilfshypothesen dazu. Diese Hypothese ist nicht vom Tisch zu wischen. Es heisst, man habe ihm die Telefonleitung gekappt, sein Haus angezündet. Sie haben ihn mundtot gemacht. Jetzt werfen sie ihm vor, er habe die Hypothese nicht bewiesen. Das kann ich als Sachverständiger nicht verstehen. Ich bin als Wissenschaftler verpflichtet, auch andere Erklärungen in Betracht zu ziehen. Das britische Landwirtschaftsministerium Maff hat sogar eine grosse Untersuchung dazu begonnen. Aber die Ergebnisse bekam ich nie zu Gesicht. Hier sieht man, dass das, was in Sachen BSE publiziert wird, der politischen Kontrolle unterliegt. Kurz, die Phosmet-Hypothese ist eine wissenschaftlich ernst zu nehmende Hypothese. Ob sie stimmt oder spekulativ ist, wissen wir nicht. Sie ist aber genauso ernst zu nehmen wie die Prionen-Hypothese, die ja auch nur eine Hypothese ist.

Könnten die Alternativhypothesen die Häufung von Creutzfeldt-Jakob-Fällen im kleinen britischen Dorf Queniborough erklären?

Wenn Sie die Vektorhypothese mit der Phosmet-Hypothese kombinieren, scheint dies nicht mehr so weit hergeholt. Natürlich verwende ich Antiparasitika nur dort, wo es mehr Parasiten hat. Und wenn die Chemikalien die Anfälligkeit erhöhen, treten auch mehr Fälle auf. Dann wird auch klar, warum gerade Katzen, die Flohhalsbänder haben, und Zootiere hauptsächlich betroffen sind.

Ihre Hypothesen tönen sehr einleuchtend. Sind die anderen Wissenschaftler tatsächlich auf dem Holzweg?

Das ist nicht das Problem. Es ist vielmehr so, dass der Tanker, wenn er einmal eine Richtung hat, immer weiterfährt, egal, ob da eine Klippe ist. Das spielt keine Rolle. Die Wissenschaft reagiert ja nicht sehr flexibel auf neue Erkenntnisse und hat ein stark retardierendes Moment. Auf diese Weise bremst die Wissenschaft, zumindest die institutionalisierte, den Fortschritt eher, als dass es vorangeht. Es ist auch kein Wunder, dass der wissenschaftliche Fortschritt meistenteils von Leuten gekommen ist, die nicht zum System gehört haben. (Die Weltwoche, 25. Januar 2001)

Hinweis: Pressemeldungen entsprechen nicht unbedingt den Tatsachen und geben daher nicht notwendigerweise die Ansichten von veganismus.de wieder.


veganismus.de