Goldfisch im Stützkorsett

Lieber in Ruhe lassen: Auch die Tiere, die wir nicht essen, brauchen ihre Parallelwelten

Von Ute Scheub und Annette Jensen

Es gibt zwei Arten von Tierfriedhöfen. Die eine Sorte findet sich in Städten wie Berlin, London und Paris. In wuchtige Grabsteine sind Inschriften gemeisselt wie "Unserem unvergessenen Mohrle in ewiger Liebe und Treue"; davor liegen Gestecke mit roten Plastikherzchen. Die andere Sorte sind lichterloh brennende Haufen aus Tierkadavern und Massengräber, die derzeit EU-weit angelegt werden.

Inbrünstige Tierliebe und Massenmord - das geht doch nicht zusammen? Doch. In beiden Fällen handelt es sich um ein Machtverhältnis, das die Menschen gegenüber den Tieren erbarmungslos exekutieren. Was im Stall steht, ist Ware - nicht mehr. In winzige Boxen gepfercht, können sich die Objekte der Massentierhaltung kaum bewegen, damit sie schnell zunehmen. Sauen, von Natur aus treusorgende Mütter und gesellige Wesen, haben auf dem nackten Betonboden ihres Einzelverschlags keinerlei Möglichkeiten, eine Ecke für die Ferkel zu bauen. Ein Gurt fixiert sie am Boden; so können sie sich weder umdrehen noch zum Ruhen die gestreckte Seitenlage einnehmen. Weil die Verbraucher bei Puten Brustfleisch bevorzugen, werden Tiere "produziert", die bei natürlicher Evolution keinerlei Überlebenschancen hätten. In ihrer letzten Lebensphase kippen sie vornüber; die viel zu schwachen Knochen können die Muskelpakete nicht tragen. Nicht besser ergeht es Gänsen, in die maschinell täglich 1,2 Kilo Maisbrei hineingepumpt wird - das entspricht einer Portion von 60 Kilogramm Spaghetti für einen Menschen. Auf diese Weise schwillt ihre normalerweise 100 Gramm schwere Leber auf bis zu zwei Kilo an und kann wenig später Feinschmeckern als paté de foie gras serviert werden. Dass die Tiere bei dieser Prozedur grosse Qualen erleiden, systematisch vergiftet werden und gelegentlich sogar der Magen eines Tieres platzt, sind unappetitliche Details, die an der Festtafel nicht präsent sind.

Die Verbraucher wollen nicht daran erinnert werden, dass ihr Kaufverhalten auf blutigen Voraussetzungen basiert. Die Fleischindustrie weiss das genau. Die Konfrontation mit Leid und Tod der Tiere würde beschämen. Deshalb sind sie tabu. Die Mehrheit der Menschen hierzulande hält sich schliesslich für besonders tierlieb: In einer Untersuchung aus den siebziger Jahren nahmen 82 Prozent der befragten Bundesbürger diese Haltung für sich in Anspruch. In den achtziger Jahren sprach sich fast jeder vierte gegen das Töten von Tieren für die menschliche Ernährung und Bekleidung aus, jeder zehnte lehnte Tierversuche strikt ab. Bei Umfragen über besonders verabscheuungswürdige Verhaltensweisen rangiert Tierquälerei regelmässig auf den vorderen Rängen.

Das exzessive Bekenntnis zur Tierliebe scheint jedoch vor allem einem zu dienen: der Abwehr von Schuld- und Schamgefühlen. Für jeden Einwohner der Industrieländer sind am Ende seines Lebens durchschnittlich 649 Nutztiere gestorben. 600 Hühner, 22 Schweine, 20 Schafe plus 7 Rinder ist gleich ein Mensch der Wohlstandsgesellschaft, hat ein britischer Wissenschaftler errechnet. Weitere Tiere werden für Versuchszwecke "verbraucht" - allein in der Bundesrepublik waren es 1999 rund 1,59 Millionen. Tendenz steigend, denn Bio- und Gentechnologie haben einen ungeheuren Bedarf an neuen "Objekten". Brutalisierung und Sentimentalisierung sind zwei Seiten einer Medaille: Die millionenfache Misshandlung der Nutztiere wird durch das Verhätscheln der Heimtiere kompensiert.

Heute lebt in jedem dritten Haushalt mindestens ein Tier. Ein Milliarden-Markt: Für Fressen und Unterhalt von 22 Millionen Katzen, Hunden, Nagern und Ziervögeln sowie knapp 86 Millionen Zierfischen gaben die Deutschen im vergangenen Jahr rund 5,5 Milliarden Mark aus - auch hier Tendenz steigend. Der Papagei, der in einem engen Käfig von einem Bein aufs andere tritt und abgeschnitten von seinen Artgenossen menschliche Laute nachahmt, erfreut den Menschen. Dass fünf oder sechs Artgenossen beim Fang oder Transport sterben mussten, damit Lora den Weg ins Wohnzimmer finden konnte, verdrängt der stolze Besitzer. Viele Tiere verkraften das zu innige Verhältnis mit den Menschen nicht, hat die niederländische Tierpsychologin Nienke Endenburg beobachtet. Immer mehr Hunde seien depressiv, könnten nicht mehr allein sein und zerstörten aus Frustration die Wohnung ihres Herrchens oder Frauchens.

In den USA lässt sich die Tendenz zur Verhätschelung noch deutlicher ablesen. In 60 Prozent aller Haushalte leben Tiere. Es gibt Hundebäckereien und -restaurants, in denen Hasso jede Art von Spezial-Leckereien serviert bekommt, Antistress-CDs für Hamster und festlich glitzerndes Weihnachtsstreu fürs Terrarium. Im Weissen Haus herrscht eine Hundedynastie. Nachdem Bill Clintons Labrador Buddy den Regierungspalast verlassen musste, übernahm der Spaniel Spot von US-Präsident George W. Bush die Amtsgeschäfte seines Vorgängers. Im Hochtechnologieland Japan beglücken Hundebesitzer ihre Waldis seit neuestem mit Fitness-Laufbändern zu einem Preis bis zu 8700 Mark. Wer keine Zeit hat, seinen Liebling Gassi zu führen, schickt ihn aufs Band.

Die Deutschen sind kaum weniger tiernärrisch. Im Reha-Zentrum von Bad Wildungen können Vierbeiner Reflexzonenmassagen geniessen, in Leipzig und in Hilden haben luxuriöse Hundehotels mit Swimming-Pool und klimatisierten Einzelzimmern aufgemacht. Wer sein Tierchen nach Hilden bringt und anschliessend in den Urlaub fährt, kann per Internet und Webcamera verfolgen, wie es ihm dort auf dem Sportplatz oder im Swimming Pool ergeht. Die britische Tierfreundin Gina Silvester wiederum präsentierte der Öffentlichkeit voller Stolz ein Stützkorsett, das sie für ihren an einer Schwimmblasen-Störung leidenden Zierfisch erfunden hatte: "Ich konnte es nicht ertragen, ihn so leiden zu sehen."

Der kitschigen Vermenschlichung der Haustiere entspricht die gnadenlose Verdinglichung der Nutztiere. Unsere "Moral", was als widerlich oder barbarisch empfunden wird und was bedenkenlos aufgefressen werden kann, entpuppt sich als durch und durch kulturell überformt. Es gibt keinerlei Rechtfertigung dafür, warum wir die eine Sorte von Tieren herzen und hätscheln und die andere quälen und töten. Wie also können wir angemessen mit den Tieren umgehen? Vor allem indem wir sie in Ruhe lassen. Ein respektvolles Verhältnis zu ihnen zu entwickeln bedeutet, sie nicht als Mittel zur Befriedigung eigener Bedürfnisse zu benutzen und ihre Parallelwelten zu akzeptieren. (Frankfurter Rundschau, 30. März 2001)

Hinweis: Pressemeldungen entsprechen nicht unbedingt den Tatsachen und geben daher nicht notwendigerweise die Ansichten von veganismus.de wieder.


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