Rücksicht auf die Leidensfähigkeit

Dimensionen des guten Lebens: Moralphilosophische Überlegungen zur Tötung von Tieren

von Ursula Wolf

Im vierten Beitrag unserer Tierethik-Reihe (FR v. 8. 5., 15. 5. und 12. 6) erörtert Ursula Wolf die Frage, ob das Töten von Tieren aus moralphilosophischer Sicht erlaubt ist. Das entscheidende Kriterium, das sie in den Vordergrund rückt, ist die Fähigkeit eines Lebewesens zum "Vorgriff auf die Zukunft".

Die Massenschlächterei von Tieren zur Eindämmung von BSE und MKS, aber auch zur Marktbereinigung, weil die Verbraucher die Lust auf Fleisch verloren haben, lässt selbst Menschen, die bisher ohne Bedenken ihr Steak verzehrt haben, über die Probleme der Tiernutzung nachdenken. Die Probleme, die die Seuchen aufwerfen, betreffen allerdings mehr den Verbraucherschutz und die Lage der Landwirte, weniger die Lage der Tiere. Denn wie von kritischen Beobachtern der Vorgänge zu Recht betont, wären die Tiere sonst zur Fleischerzeugung getötet worden. Die massenhafte gleichzeitige Tötung, der Anblick riesiger brennender Tierhaufen, erweckt offenbar mehr Entsetzen als das alltägliche Schicksal der Schlachttiere unter "normalen" Bedingungen. Für die Tiere hingegen ist es kein großer Unterschied, ob wir sie zum Verzehr, zur Eindämmung von Seuchen oder aus Gründen der Marktregulierung töten. Mit Blick auf die Tiere ist die allgemeine Frage, ob wir Tiere überhaupt töten dürfen oder ob wir ihnen damit ein Unrecht tun. Fragen wir zuerst nach der rechtlichen Lage, dann dürfen laut deutschem Tierschutzgesetz Wirbeltiere nicht ohne vernünftigen Grund getötet werden (§17). Welche Gründe als vernünftig akzeptiert werden, kann man daraus entnehmen, welche Tötungsarten im Gesetz geregelt werden, nämlich unter anderem Schlachten, Jagen, Angeln, Töten nach Tierversuchen. Das scheint schwer zu verstehen. Denn entweder fallen Tiere, oder zunächst Wirbeltiere, unter das Tötungsverbot und sie zu töten ist ein moralisches Unrecht. Dann müssen Ausnahmen von diesem Gebot auf moralisch relevante Weise begründet sein. Wo es um das Verbot zu töten geht, wären moralisch relevante Gründe etwa Notwehr oder die Sicherung des eigenen Überlebens. Und vielleicht stehen hinter der Formulierung im Tierschutzgesetz noch veraltete Vorstellungen derart, dass wir Tiere schlachten müssen, weil wir das Fleisch zum Überleben brauchen usw., womit dann "vernünftig" den stärkeren Sinn von "notwendig für unser Überleben" hätte.

Das ist allerdings nicht zutreffend. Selbst wenn man einräumt, dass das Essen von Fleisch ein vernünftiger Zweck und nicht bloß eine Vorliebe ist, da manche Nährstoffe, die wir als Menschen brauchen, durch Fleisch vielleicht leichter zu bekommen sind als durch pflanzliche Nahrung, ist das mit etwas mehr Planung und Aufwand auch auf andere Weise möglich. Und nach den gewöhnlichen Regeln der moralischen Argumentation kann man schlecht eine Ausnahme vom Tötungsverbot durch den Hinweis auf größere Bequemlichkeit rechtfertigen.

Nun ist weder im Gesetz noch in den alltäglichen Moralvorstellungen besonders klar, warum man Tiere nicht grundlos töten sollte. Es ist leicht zu verstehen, warum man Tiere nicht quälen sollte. Die Erklärung lautet, dass Tiere empfinden und leiden können. Aber warum soll man Tiere nicht töten, angenommen, dass das ohne Leiden möglich ist? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns grob darüber verständigen, was überhaupt Gegenstand moralischen Handelns ist und wie wir über Anwendungen entscheiden.

Eine immer noch verbreitete Position lautet, dass Moral den Schutz der Menschenwürde zur Aufgabe hat. Ich würde die neutralere Formulierung vorziehen, dass die Moral in der Rücksicht auf andere besteht. Das scheint mir schon mit Bezug auf Menschen die geeignetere Konzeption, weil nicht jede Verletzung, die man einem anderen zufügt, automatisch eine Verletzung seiner Würde oder Selbstachtung sein muss. Die Selbstachtung ist nur eine Dimension des guten oder glücklichen Lebens, und Rücksicht müsste sich auf den Menschen in allen Hinsichten beziehen, in denen es ihm um etwas geht, in denen er von Handlungen anderer subjektiv betroffen sein kann. Versteht man den moralischen Standpunkt so, dann sind die Tiere von vornherein in die Moral einbezogen. Denn sie können empfinden und daher unter bestimmten Handlungen, die man ihnen antut, leiden. Doch auch diejenigen, die die Moral um den Begriff der Menschenwürde zentrieren, sind im allgemeinen der Auffassung, dass auch die Leidensfähigkeit der Tiere eine Basis für Rücksicht darstellt.

In beiden Versionen sind die Tiere Objekte moralischen Handelns aufgrund ihrer Leidensfähigkeit. Was klar gegen die Moral verstößt, ist dann, dass wir Tieren Leiden zufügen. Zu Maximen der Anwendung führt dies erst, wenn wir überlegen, worunter Tiere leiden können. Häufig wird dabei in der Hauptsache an physische Schmerzen gedacht. Aber Tiere können auch unter Angst und Stress leiden, können leiden, wenn sie auf engem Raum eingesperrt sind, wenn sie ohne Kontakt zu Artgenossen sind und dergleichen. Ob das Töten von Tieren moralisch bedenklich ist oder nicht, hängt davon ab, worin grundsätzlich das Problem beim Töten liegt. Warum soll man Menschen nicht töten? Zwei Antworten sind denkbar. Die erste lautet, dass Menschen Wesen mit einem Wert oder einer Würde sind, die nicht angetastet werden darf, die in irgendeinem Sinn heilig und unverletzlich ist. Das klingt in dieser Formulierung religiös oder metaphysisch und scheint daher ein absolutes Tötungsverbot zu implizieren, eines, das keine Ausnahme zulässt. Auch wenn jedem unbenommen bleibt, eine auf diese Weise metaphysisch fundierte Moral zu haben, entspricht ihr Absolutismus kaum der Art, wie wir heute moralisch urteilen. Tötung in Notwehr, vielleicht auch im Notstand oder Tötung im Krieg wird von vielen prinzipiell zugelassen. Das heißt, der Würdebegriff hat häufig den schwächeren Status eines rhetorischen Mittels, mit dem betont werden soll, dass wir allen Menschen Grundrechte und den Anspruch auf Berücksichtigung dieser Grundrechte zuschreiben. Diese Grundrechte beziehen sich auf die wichtigen Dimensionen des guten Lebens. Dazu gehört beim menschlichen Leben, dass es ein Bewusstsein von Leben und Tod hat, dass es Ziele in der Zukunft verfolgen kann, Pläne für das weitere Leben machen kann. Nun könnte man sagen, dass ein Mensch, würde er überraschend und schmerzlos im Schlaf getötet, nicht unter der Vorstellung leiden würde, dass seine Lebenspläne unvollendet bleiben. Aber vielleicht sollte man die Lebenspläne nicht ganz so punktuell sehen, sondern beachten, dass wir nicht nur einzelne Wünsche haben, sondern auch andauernde Wunschdispositionen, die man auch der schlafenden Person zuschreiben könnte. Zusätzlich könnte man sagen, dass das Fehlen des Tötungsverbots dazu führen könnte, dass alle in ständiger Angst leben, ihre Zukunft zu verlieren. Bei den Tieren muss man bezüglich der Tötungsfrage eine differenzierte Antwort für verschiedene Spezies geben. Sehr hoch entwickelte Tiere, insbesondere Primaten, aber vielleicht auch Delphine, zeigen nach Ansicht der Verhaltensforschung eine Art von Selbstbewusstsein und sollten daher in den Schutz des Tötungsverbots einbezogen werden. Am anderen Extrem der Skala finden sich Tiere mit sehr wenig Differenzierung in Gehirn, Sinneswahrnehmung und Nervensystem.

Dazwischen steht die große Menge der Tiere, die lernen, spielen und Verhaltensweisen zeigen, die einen rudimentären Vorgriff auf die Zukunft haben. Ihr Verhalten ist nicht nur insofern zukunftsbezogen ist, als Verhaltensmuster ablaufen, die Zeit füllen, sondern sie haben Ziele, die über den Jetztpunkt hinausgehen, und sind in der Lage, sich flexibel um die Erreichung dieser Ziele zu bemühen. Und man könnte sagen, dass jedes Wollen, das über das Jetzt hinausgeht, ein Weiterlebenwollen impliziert, weil das weitere Leben die Grundlage aller zukunftsbezogenen Handlungen ist. Dennoch ist sicher ein Unterschied zwischen implizitem Lebenwollen und explizitem Wissen um Leben und Tod, und ich würde denken, dass eine direkte Grundlage für das Tötungsverbot bei Tieren nicht gegeben ist, mit Ausnahme der erwähnten besonders hochentwickelten Tiere, bei denen man erste Stufen des Selbstbewusstseins vermuten kann.

Wenn man von diesen Ausnahmen absieht, wäre gegen das Töten von Tieren moralisch nichts einzuwenden, solange dem Tod kein Leiden vorangeht. Was die tatsächlichen Umstände der Tiertötung angeht, ist diese Freiheit von Leiden allerdings kaum gegeben. Dies gilt, wie inzwischen auch diejenigen, die sich bisher für das Schicksal der Tiere weniger interessiert haben, wissen, gerade für die massenhafte Tötung, die früher für die Fleischgewinnung und jetzt für die Seuchenvermeidung und Marktbereinigung stattfindet. Die Umstände des Transports, die Zustände auf dem Schlachthof, die oft ungenügende Betäubung machen Angst, Stress und Schmerzen unvermeidlich. Doch sind dies keine Gründe gegen das Töten, sondern gegen die Art, wie das Töten geschieht. Die Tötung von Versuchstieren erscheint im Vergleich dazu harmlos. Auch was vorangeht, was die Tiere während ihres Lebens zum Nutzen der Menschheit leiden, ist in der Massentierhaltung oft schlimmer als in der Haltung von Versuchstieren, die oft besser untergebracht und versorgt werden. Andererseits leiden auch Versuchstiere in vielen Fällen unter Angst, Stress und Schmerzen, ehe sie getötet werden.

Die neue Aufmerksamkeit auf das unermessliche Leiden, das wir in der Tierwelt anrichten, lässt in der Tat die Frage aufkommen, ob wir nicht aus moralischen Gründen auf die Tiernutzung ganz verzichten sollten, zumal das heute in vielen Punkten möglich scheint. Wir wissen inzwischen genug über Ernährung, um die Versorgung mit allem, was wir für ein gesundes Leben brauchen, auch pflanzlich gewährleisten zu können, und es gibt bereits zahlreiche Alternativmethoden zum Tierversuch, die weiterentwickelt werden könnten.

Diese radikale Konsequenz scheint mir jedoch nicht zwingend. Die relativ hoch entwickelten Tiere, die wir in der Hauptsache nutzen, sind lernfähig und haben breite Spielräume des Verhaltens, innerhalb derer sie ein ihnen gemäßes Leben führen können. Die traditionelle Tiernutzung, die Tiere unter sogenannten artgerechten Bedingungen hält, also bei Nutztieren in kleinerer Zahl im Freien, scheint unbedenklich. Dasselbe könnte man für Versuchstiere sagen, wenn sie entweder für harmlose Versuche wie Verhaltensbeobachtungen gebraucht werden oder bei medizinischen oder pharmakologischen Versuchen narkotisiert und getötet werden, sofern der Versuch zu Schäden oder Schmerzen führt.

Dass auch das Töten von Tieren inzwischen vielen bedenklich erscheint, hat verständliche Gründe. Der erste ist das Grauen, das die derzeitige massenhafte Vernichtung von Tieren erzeugt. Doch wie zu Anfang erwähnt, scheint auch sonst die Tötung von Tieren ohne Grund nicht zum Tierschutzgedanken zu passen. Wenn es so ist, dass den Tieren kein Unrecht geschieht, wenn wir sie leidfrei töten, dann muss die Unvereinbarkeit eher motivational sein. Wenn wir eine Haltung moralischer Rücksicht auch gegenüber Tieren haben, Mitleid mit ihnen empfinden und wollen, dass ihnen kein unnötiges Leiden zugefügt wird, dann impliziert das, dass uns am Wohl der Tiere liegt, und dieses Interesse am guten Leben der Tiere impliziert ein Interesse an ihrem Leben.

Wer eine psychische Einstellung des Mitleids mit Tieren, der Ablehnung von Tierquälerei hat, hat damit implizit auch eine Motivation zur Bewahrung des Lebens von Tieren. Umgekehrt ist dann die Maxime verständlich, man solle Tiere nicht zum Spaß, nicht ohne wichtigen Zweck töten. Denn eine solche Handlungsweise würde eine Gleichgültigkeit gegenüber Tieren zeigen, die auch die Einstellung der Rücksicht auf die Leidensfähigkeit schwächen könnte (Frankfurter Rundschau, 26. Juni 2001).

Hinweis: Pressemeldungen entsprechen nicht unbedingt den Tatsachen und geben daher nicht notwendigerweise die Ansichten von veganismus.de wieder.


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