Einäugige, Hundsköpfige und Schattenfüßler

Verwandtschaften und Differenzen: Die Grenze zwischen Mensch und Tier in der Frühen Neuzeit

Die fast vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms hat die These einer nahen Verwandtschaft von Tier und Mensch bestätigt, jedenfalls im Hinblick auf die genetische Ausstattung. Vor diesem Hintergrund blickt der Historiker Paul Münch zurück in die Zeit vor der "biologischen Kränkung" und stösst auf ein "abenteuerliches Nebeneinander" von Vorstellungen über Fremdheit und Verwandtschaft zwischen Menschen und Tieren.
Wir befinden uns in einer anthropologischen Wendezeit, in der die Grenzen zwischen den irdischen Lebewesen, insbesondere den sogenannten Menschen und den sogenannten Tieren, neu gezogen werden. Mit immer neuen Schwerpunktsetzungen hatte man seit der Antike behauptet, der Mensch sei im Unterschied zum Tier ein politisches, ein vernünftiges, ein sprechendes, ein lachendes, ein werkzeugmachendes, ein religiöses, ein kochendes, ein Privatbesitz akkumulierendes Tier. Seit längerem sind diese Charakterisierungen, die mit der Betonung exklusiver Fähigkeiten die Sonderstellung des Menschen herausgestrichen haben, ins Gerede gekommen. Die vergleichende Verhaltensforschung konnte nachweisen, dass auch Tiere Werkzeuge herstellen, in gegliederten Gemeinwesen leben, über höchst differenzierte Kommunikationstechniken verfügen, eine reiche Gefühlswelt zeigen, mitunter auch lachen und weinen, außerdem Wahrnehmungs- und Täuschungsfähigkeiten, ja selbst Moral besitzen. Für die ,gebildeten' Menschenaffen scheint inzwischen gar das Postulat unabweisbar, sie als ‚Personen' im philosophischen Sinn, d.h. als moralische Wesen ähnlich den Menschen zu respektieren, sie vielleicht gar in den exklusiven, bislang nur für Menschen offenstehenden, ethischen Klub' aufzunehmen, was sie dann auch in den Genuss von Menschenrechten bringen müsste. Diejenigen, die Mensch und Tiere näher aneinanderrücken, erfahren gegenwärtig argumentative Unterstützung von Seiten der Genforschung, welche die Ähnlichkeit der genetischen Ausstattung von Tieren und Menschen hervorhebt. Dagegen stehen jene, die an der Trennung der Spezies festhalten möchten, da doch wesenhafte Unterschiede zwischen Menschen und anderen Tieren bestehen bleiben. Sie sehen im empathischen Blick auf die Tiere einen blinden Anthropomorphismus am Werk, der mit unzulässigen Analogien und Übertragungen arbeitet.

So wie heute die Entdeckungsfahrten in die genetischen Innenwelten des Menschen eine neue Wahrnehmung der Spezies Homo sapiens provozieren, so stellte einst die mit Kolumbus einsetzende und im ausgehenden 18. Jahrhundert vollendete geographische Globalisierung der Welt das aus Antike und Mittelalter überlieferte Bild der Welt und des Menschen grundätzlich in Frage. Als der gesamte Erdball rkundet war, entwarfen Wissenschaftler eine neue Ordnung der Natur. Bis Carl von Linné im Jahre 1735 Affen und Menschen im Begriff der Primaten zusammenschloss und mehr als hundert Jahre später Charles Darwin beide als evolutionär beglaubigte Verwandten einer gemeinsamen Abstammungslinie identifizierte, also den Menschen explizit als historisches Wesen definierte, gab es ein abenteuerliches Nebeneinander anthropologischer Entwürfe.

In den Kosmologien und mythologischen Überlieferungen vieler Völker handeln Tiere kaum anders als Menschen. Sie sind mit ihren menschlichen Schwestern und Brüdern gewissermaßen auf einer Ebene angesiedelt, ohne damit die Fähigkeit zu verlieren, auch in die Transzendenz zu wechseln. Menschen und Götter schlüpfen in Tiergestalten, Tiere verwandeln sich in Menschen oder Götter. Von Pythagoras über Plato bis zu den neuplatonistischen Strömungen der Renaissance lassen sich Vorstellungen fassen, die im Verhältnis von Menschen, Tieren und sogar Pflanzen eher das Gemeinsame hervorheben. Tiere konnten dem Menschen sogar überlegen sein. Das spektakulärste Beispiel bietet Montaigne, der in einem Essai mit dem menschlichen Dünkel gegenüber Tieren abrechnet und bei Menschen und Tieren von "gleichen Verrichtungen auf gleiche Fähigkeiten" schließt. Die gestörte Kommunikation zwischen den Arten, die er noch nicht hierarchisierend gegeneinander abgrenzt, dürfe nicht einseitig den Tieren angerechnet werden: "Es wäre eine Aufgabe, zu erraten, an wem der Fehler liegt, dass wir uns einander nicht verstehen: denn wir verstehen sie ebenso wenig als sie uns. Aus ebendieser Ursache können sie uns eben sowohl für dumm halten als wir sie."

Den Zusammenhangs alles Lebendigen vergegenwärtigte man sich in den Bildern der Lebenskette oder der Naturtreppe. Wirkmächtig wurde vor allem die scala naturae-Lehre des Aristoteles, die das europäische Denken bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts beherrschte. Ihr zufolge waren alle irdischen Lebewesen durch den gemeinsamen Anteil an der für Fortpflanzung und Ernährung verantwortlichen vegetativen Seele miteinander verwandt. Noch näher standen sich Tiere und Menschen, die darüber hinaus eine wahrnehmende und fühlende Seele besaßen. Durch die ihm vorbehaltene Vernunft jedoch rangierte der Mensch im Stufenbau der Natur klar an der Spitze. Gegenüber den übrigen Tieren, die nur "von Natur aus" (physei) handeln könnten, erschien allein er zu Selbstreflexion, rationalem Vernunftgebrauch und Zukunftsplanung fähig. Diese Hierarchisierung der belebten Welt fügte sich leicht in die christliche Lehre ein. Der Schöpfungsbericht der Genesis hob den Menschen allerdings noch weiter über das Tierreich hinaus, in dem er ihm als Ebenbild Gottes die Herrschaft über die gesamte Schöpfung zusprach. Dennoch ließen die Verwandtschaftsvorstellungen Raum für Distanzen und Differenzen. Gegen die neuplatonischen Anschauungen eines von okkulten Prinzipien und Kräften durchwirkten Kosmos entwickelte René Descartes seine Vorstellung vom Tierautomaten. In seinem 1637 erschienenen Discours de la méthode erschienen Tiere - im Gegensatz zum Menschen, der ein Doppelwesen aus Körper und unsterblicher Seele war - als ausschließlich materielle Wesen, die keinen Anteil an jener immateriellen Seelensubstanz hatten. Damit degradierte er sie zu seelenlosen Automaten, denen zwei den Menschen charakterisierende Fähigkeiten fehlten: Sprache und Vernunft. Selbst bei anspruchsvolleren Handlungen leisteten Tiere nicht mehr als eine Uhr, "die nur aus Rädern und Federn gebaut ist, genauer die Stunden zählen und die Zeit messen kann als wir mit all unserer Klugheit".

Seine Anhänger radikalisierten die Auffassung von der Tiermaschine, indem sie Tiere sogar der anima sensitiva beraubten. So dürfe der Schrei eines Hundes, den man schlage, nicht als Ausdruck des Leidens missverstanden werden. Da ihm die Empfindungskraft fehle, könne er keine Schmerzen empfinden. Wenn ein Tier schreie, dann bedeute das nichts anderes, als wenn eine Orgel zu tönen beginne, deren Tasten man niederdrücke. Diese Lehre, die besonders von Theologen vertreten wurde, beseitigte das Theodizee-Problem: dass nämlich ein Gott existiert, der die unschuldige Kreatur ebenso wie den mit der Erbsünde beladenen Menschen dem Leid unterwirft, und sie nahm zugleich jenen das schlechte Gewissen, die mit der Verwertung von Tieren für die Menschen befasst waren. Die Konzepte der Lebenskette und der scala naturae ließen Raum für Mischwesen, etwa für die mythologischen Zwitter der Antike: halb Gott/halb Mensch, halb Mensch/halb Tier. Daneben vermutete man von alters her Fabelwesen an den Rändern der bekannten Welt, ein Glaube, der durch die Entdeckungsfahrten kaum erschüttert, sondern eher noch durch neue Wunderwesen erweitert wurde. Den fernen Einäugigen, Hundsköpfigen und Schattenfüßlern entsprach eine reich bevölkerte heimische Galerie helfender und schadender Kräfte und Geister: Riesen, Zwerge, Hexen, Werwölfe, Wechselbälger, Nixen und Waldmenschen. Bis zur Aufklärung vagierten diese Phantasiegestalten durch die Räume und Zeiten. Sie gehörten zur Realität der vormodernen Gesellschaft.

Das Phänomen der Zwischenwesen respektierte noch nicht die späteren Artgrenzen und strahlte weit in den sozialen Raum aus. Für Entdecker und Reisende figurierten die "Wilden" aufgrund ihres Aussehens, ihrer Sexualität, ihrer unverständlichen Sprache oft als Wesen, denen der Status vollwertiger Menschen teilweise oder ganz fehlte. Als "Tiere" sah man mitunter auch die sozial minder geachteten Gruppen der ständischen Gesellschaft, insbesondere Bauern oder Dienstboten, die sich von Tieren kaum zu unterscheiden schienen. 1674 bezeichnete der protestantische Hanauer Pfarrer Aegidius Henning die Bauern als eine Art Mittelding zwischen Wilden und richtigen Menschen. Die Gleichsetzung des "Pöbels" mit einem "vielköpfichten Tier", die sogar im Sprichwort begegnet, war weit mehr als eine despektierliche metaphorische Wendung. Adorno hat zurecht darauf hingewiesen, dass die Herabwürdigung von Menschen zu Tieren "bereits den Schlüssel zum Pogrom" in sich berge, weil der "Mechanismus der pathischen Projektion" immer nur das eigene Spiegelbild wahrnehme, "anstatt das Menschliche gerade als das Verschiedene zurückzuspiegeln".

Ein weiteres Beispiel frühneuzeitlicher Animalisierung von Menschen ist die Abqualifizierung von Frauen als Tiere. Die Grenze zwischen den Geschlechtern verlief während der gesamten frühen Neuzeit erst ansatzweise entlang der späteren biologischen Klassifikationen. Dies zeigt jene gelehrte Debatte, die vom ausgehenden 16. bis weit ins 17. Jahrhundert um das Menschsein von Frauen geführt wurde. Die Autoren der frauenfeindlichen Querelle des Femmes rechneten die "Weiber" nicht nur zu den Tieren, sondern verwiesen sie innerhalb des Regnum animale auf den denkbar schlechtesten Platz: Frauen erschienen als Mischwesen, in denen die gefährlichsten Eigenschaften von Tieren mit der Bosheit des Teufels in eine höchst negative Konjunktion getreten waren: "Es ist kein Thier so gifftig, das Weib ist noch gifftiger, ja teufflischer und boßhafftiger als der Teuffel selbst." Die Debatte stand in einer Tradition, die ein Jahrhundert zuvor im Hexenhammer einen ersten Höhepunkt erreicht und Frauen aufgrund der Urschuld Evas und ihrer bedrohlichen Sexualität ins Tierreich eingeordnet hatte. Der Diskurs kulminierte in der Behauptung, dass Frauen keine Vernunft besäßen, er rekurrierte gegenüber dem allein vollwertigen Mann-Menschen also auf jenes Unterscheidungskriterium, das Menschen angeblich grundsätzlich von Tieren unterschied.

Zu Ende des 17. Jahrhunderts begann dann die vergleichende Anatomie, Ähnlichkeiten zwischen Affen und Menschen aufzudecken und damit die menschliche Überheblichkeit über die Tiere grundsätzlich in Frage zu stellen. Die erste eingehende Untersuchung, welche die Verwandtschaft von Menschenaffe und Mensch wissenschaftlich untermauerte, erfolgte im Jahre 1698 durch den englischen Arzt Edward Tyson. Die Sektion eines jungen Schimpansen ergab 48 Ähnlichkeiten, aber nur 34 Unterschiede zwischen Affen und Menschen. Damit bestätigte Tyson nicht nur eindrucksvoll die Existenz der ununterbrochenen Lebensleiter. Gleichzeitig glaubte er, das missing link zwischen Mensch und Tier entdeckt und wissenschaftlich exakt beschrieben zu haben. Der sezierte Schimpanse war mit dem Menschen enger verwandt als mit jedem anderen Affen. Dennoch verblieben gravierende Unterschiede. Es war irritierend, dass der Menschenaffe offensichtlich die gleichen oder doch ganz ähnliche Organe wie der Mensch besaß, sie aber nicht gebrauchte, wobei unentschieden war, ob er sie nicht gebrauchen konnte oder nicht gebrauchen wollte. Dass Affen nicht sprachen, obgleich sie nach Meinung der Zeitgenossen aufgrund ihrer physiologischen Ausstattung dazu befähigt schienen, wurde im 18. Jahrhundert viel diskutiert. Vielleicht trennte diese Wesen ja nur die Sprache vom vollen Menschsein und der damit verbundenen Heilsfähigkeit. "Sprich, und ich taufe Dich", soll der Kardinal von Polignac nach dem Zeugnis Diderots zu dem Orang-Utan in der Sammlung des Prinzen von Oranien gesagt haben.

Das Klassifizierungssystem Linnés, wie es sich in seinem Systema Naturae aus dem Jahre 1735 darstellte, nivellierte die Unterschiede zwischen Tieren und Menschen weiter, indem es den Menschen unmissverständlich ins Tierreich einordnete: Als Homo sapiens bildet er eine biologische Art innerhalb der Vierfüßler. Damit waren jedoch noch keine modernen Abstammungsvorstellungen verbunden; erst mit Darwin kam die Vorstellung einer gemeinsamen Herkunft von Mensch und Tier auf. Damit begann eine neue wissenschaftliche Anthropologie, die seitdem Mensch und Tier untrennbar aneinander bindet. Auf diese Weise wurde auch der vormodernen Charakterisierung der "Weiber" als Tiere der Boden entzogen: Seit Linné, noch konsequenter seit Darwin, zählen auch Männer zum Tierreich. Mit dieser "biologischen Kränkung", wie Sigmund Freud die Rückführung des Menschen ins Tierreich nannte, sind wir bis heute nicht fertig geworden.

Die Grenzen zwischen den Arten sind seit einiger Zeit wieder in Bewegung geraten, obwohl naturwissenschaftliche Erkenntnisse die Ausnahmestellung des Menschen immer mehr in Frage stellen. Während in der Vormoderne Menschengruppen aus sozialen Gründen animalisiert wurden, deutet sich gegenwärtig eine umgekehrte Entwicklung an, die Humanisierung von Tieren. Doch tatsächlich sind die Großen Menschenaffen und andere "intelligente" Tiere bestenfalls als Zwischenwesen einzustufen, weil sie - trotz enger genetischer Verwandtschaft - (noch) nicht über jene Fähigkeiten verfügen, die der Mensch im Laufe seiner Entwicklung zum Homo sapiens auszubilden vermochte. (Frankfurter Rundschau, 10. Juli 2001)

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