Rinderwahnsinn passé?

Die neue Sorglosigkeit

Das große Darben hat ein Ende, die nationale Salatkur ist vorbei. Deutschland wetzt die Messer, die Fleischeslust ist neu erwacht. Vegetarier sind wieder in der Minderheit. Metzger werden nicht mehr wie Aussätzige gemieden, die Abscheu beim Anblick blutiger Filets ist einem neuen Appetit auf Tierisches gewichen. In Schlachthöfen herrscht fast wieder Normalbetrieb. Die Kundschaft verlangt nach Steaks, futtert Würste, kauft Tafelspitz, brutzelt Fleischküchle, Rostbraten und Kalbshaxe, als ob es nie Prionen gegeben hätte. Rindfleisch steht wieder weit oben auf der Speisekarte, jubelt die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft. In Supermärkten wird beinahe so viel davon verkauft wie vor den irren Zeiten, als Kühe über Nacht zu Monstern wurden, Worte wie Búuf Stroganoff plötzlich Brechreiz verursachten und Fleischtheken wie Pestfriedhöfe verödeten. Die bovine spongiforme Enzephalopathie ist wieder zum Spezialthema für Veterinäre geworden.

Vor einem halben Jahr war das ganze Land dem Rinderwahnsinn verfallen. Jetzt zeigen Umfragen: der Massenwahn ist auskuriert, eine neue Sorglosigkeit grassiert. Die Leute, die BSE heute noch für ein ernstes Problem halten, würden an der Fünfprozenthürde scheitern. Politik und Wirtschaft, zwielichtige Geschäftemacher eingeschlossen, können sich seit eh und je auf das kurze Gedächtnis der Verbraucher verlassen: ob Salmonelleneier, wurmstichige Heringe, Antibiotikahühner oder Östrogenkälber - der Ekel vor dem Auswurf zweifelhafter Lebensmittelfabrikanten hat nie lange angehalten. Das ermutigt die schwarzen Schafe der Branche. Kaum ist der BSE-Schock verpufft, die Fleischkrise verdaut, offeriert eine Lebensmittelkette ihrer Kundschaft im Kühlregal auch schon wieder aufgetaute Altware mit Frischesiegel. Die Agrarbürokraten in Brüssel würden das Verbot, Tierkadaver zu verfüttern, am liebsten wieder aufheben. Und von der Agrarwende ist wenig mehr als eine abgedroschene Worthülse geblieben.

Die Spaßgesellschaft lässt sich den Appetit nicht auf Dauer verderben - ebenso wenig wie die Ökosteuer Autofahrer von sonntäglichen Spritztouren abhält. Inszenierte Aufgeregtheiten um den Erziehungsstil der Kanzlergattin und den Bruderkrieg im Hause Schumi, virtuelle Katastrophen wie das Dreiwochentief des Euro, das Siebenjahreshoch der Inflationsrate und die Frankensteinisierung der Biomedizin haben BSE aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Den Rinderwahnsinn selbst gibt es allerdings noch, er hält länger an als der Verfolgungswahn, den er im Konsumvolk ausgelöst hat.

In einer Gesellschaft, die ständig mit neuen Horrormeldungen bombardiert wird, sind Panik oder Gleichgültigkeit offenbar die einzig denkbaren Gemütszustände. Orientierungslosigkeit, allgegenwärtige Risiken und allgemeine Verunsicherung bestimmen das Weltbild zu Beginn des neuen Jahrtausends. Die Anlässe kollektiver Erregung wechseln wie Werbespots im Privatfernsehen. Vor einem Jahr schreckten uns Kampfhunde; sie wurden von Rechtsradikalen von der Bildfläche vertrieben, die wegen explodierender Benzinpreise in Vergessenheit gerieten, um die sich wiederum wegen der verrückten Kühe wenig später keiner mehr kümmerte; dann kamen maulfaule Schafe und klauenkranke Schweine - doch auch davon redet inzwischen keiner mehr. Die Halbwertszeiten öffentlicher Hysterie schrumpfen, die Panikzyklen werden immer kürzer. Je extremer die Erregung, desto rascher verflüchtigt sich die Erinnerung an ihre Ursachen.

Die neue Vertrauensseligkeit im Umgang mit Rindfleisch ist so unbegreiflich wie die recht willkürliche Art von Abstinenz, die in Mode kam, nachdem die erste Wahnsinnskuh auf deutschem Boden umgefallen war. Hat vor Wochen einer gefragt, womit die vielen Puten, Schweine und Strauße gemästet wurden, die Filetsteaks und Rostbraten ersetzen mussten? Und womit lässt sich heute die Renaissance des Rindfleisches erklären? Viele halten BSE für harmlos, seit der Metzger nur noch lückenlos geprüfte Ware verkauft. Der Fleischverzehr gilt als ungefährlich. Noch immer gibt es aber keine verlässlichen Kontrollen, noch immer kann beim Schlachten gepfuscht werden. Die Seuche breitet sich weiter aus, sie wird nach Ansicht von Experten in diesem Jahrzehnt auch gar nicht auszurotten sein. Noch kennt niemand ihre Ursache; das Tiermehlverbot garantiert keineswegs Schutz vor einem Ausufern der Epidemie. Immer wieder fallen Kühe BSE zum Opfer, die nie Tiermehl zu fressen bekamen. An den Folgen der Rinderseuche könnten in den nächsten Jahren hunderte Menschen in ganz Europa sterben, warnen Wissenschaftler. Und die Geschichte des Rinderwahnsinns und seiner Verharmlosung nährt Zweifel am Wunschbild des aufgeklärten, kritischen Verbrauchers. In diesen Tagen erweist es sich als Trugbild (Stuttgarter Zeitung, 02. Juli 2001).

Hinweis: Pressemeldungen entsprechen nicht unbedingt den Tatsachen und geben daher nicht notwendigerweise die Ansichten von veganismus.de wieder.


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