Peter Sloterdijk im Interview

"Ich glaube nicht an den Gott, der Hasenscharten schuf"

Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms zeigt, wie ähnlich wir den Tieren sind. Wieso behandeln wir sie dann so? Doch auch wenn der Mensch sich monströs verhält, wird er keine Monster schaffen wollen. Ein Gespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk über Tierethik, die Zukunft der Gentechnik und der Menschenzüchtung sowie die Überlegenheit der Europäer gegenüber den Amerikanern.

Peter Sloterdijk ist der publizistisch erfolgreichste zeitgenössische Philosoph in Deutschland. Sein Bestseller "Kritik der zynischen Vernunft" gilt als das am besten verkaufte philosophische Buch in Europa. Kürzlich sprach er in einem Interview der "FAZ" mit dem Genwissenschaftler Craig Venter über die Motive seiner Forschung und die Folgen der neuen Erkenntnisse über die Biologie des Menschen. Sloterdijk hat vor zwei Jahren mit seinen Thesen zur Menschenzüchtung eine kontroverse Diskussion ausgelöst und präzisiert sie nun angesichts der politischen Debatte über die Präimplantationsdiagnostik und das therapeutische Klonen. Peter Sloterdijk lehrt in Karlsruhe und Wien.

Wie ähnlich wir den Tieren sind, hat die Entschlüsselung des menschlichen Genoms gezeigt. Könnte das nicht zu größerer brüderlicher Verantwortung für das Tier führen?

Die vertiefte Einsicht in die genetische Ähnlichkeit zwischen Tier und Mensch, auch zwischen Mensch und Pflanze, bringt uns in eine Situation, in der viele Menschen nachvollziehen können, was schon im deutschen Idealismus und in der Naturphilosophie um 1800 formuliert worden war. Denken Sie an Schelling, der sich gegen den "vollendeten Totschlag an aller Natur" durch den moralischen Idealismus Fichtes aufgelehnt hat. Vor zweihundert Jahren wurde philosophisch viel von dem vorweggenommen, was uns heute aus den Labors erneut entgegenkommt. Was damals im Gehrock vorgetragen wurde, begegnet uns heute in der Sprache der weißen Kittel wieder. Im Übrigen hat die breite Bevölkerung die völlig richtige Intuition, dass öffentlich erklärt werden muss, was in den Labors der Techniker geschieht. Dort werden Entwicklungen ausgependelt, die die conditio humana im Ganzen angehen.

Wer kann diese Labors noch kontrollieren?

Offenbar entsteht gerade eine Art Konzil der Betroffenen. Seit ein paar Jahren spielt sich um die Labors der Gen-Kardinäle herum ein Volksauflauf ab, eine Art biopolitisches Kirchenvolksbegehren. Und um diesen Kern aus anthropologisch Betroffenen bildet sich zurzeit noch ein zweiter Ring, der sich zusammensetzt aus den Anwälten der übrigen Kreaturen. Diese übernehmen eine neue Art von Anwaltschaft oder Treuhandschaft gegenüber den Stufen der animalischen Evolution, die selber keine Stimme haben, die aber als verletzbares Leben und störbarer ökologischer Zusammenhang durch unsere Köpfe hindurch mit in die entstehende Vollversammlung der Kreaturen hineinreden. Die Tiere sitzen künftig mit am Tisch.

Brauchen wir neben dem Codex der Anthropotechniken, den Sie fordern, nun auch einen Codex der Animal-Techniken?

Ganz sicher. Ich denke, dass ein neuer Berufszweig entstehen wird, eine neue Kategorie juristischer Kompetenz. Es wird über kurz oder lang Tieranwälte geben und Tiertreuhandschaften. Die traditionellen Tieragenturen bei den Veterinären, den Landwirtschaftsministern, den Tierschützern und anderen reichen nicht aus, um eine einklagbare Ethik zu schaffen, die den Erkenntnissen über die Verwandtschaft von Mensch und Tier entspricht. Man kann diese Tendenz ganz klar aus dieser schöpferischen Unruhe heraushören, die seit Wochen angesichts des BSE-Skandals und anderer Tierkatastrophen über ganz Europa hinweggeht. Man redet endlich wieder von den Tieren und auch wieder von den Bauern. Die Bauern waren ja bisher die unbelohnten Mandatare der Tierwelt in unserer Gesellschaft. Ihre Leistung muss nun neu definiert und auch neu vergütet werden.

Zurzeit werden in Europa Millionen von Tieren wegen BSE und der Maul-und-Klauen-Seuche verbrannt. Wie kann man das mit dem Respekt vor dem Tier vereinbaren?

Die Tiere bringen sich durch ihre Katastrophen in Erinnerung, und ich bin sicher, dass dies langfristige Folgen für das Ethos und die Diät zeitigt. Aber man kann die Frage der Schuld nicht mehr so wie früher an die Gesellschaft überhaupt delegieren, als noch ein linksradikaler Agitationsmodus vorherrschte, der meinte, "die Gesellschaft" sei eine Adresse, an die man alle Vorwürfe schicken kann. Heute merken wir, dass die Gesellschaft kein sinnvoller Adressat für ungenaue moralische Beschwerden ist. Angesprochen sind alle, die operationsfähig sind. Die Gesellschaft als ganze operiert nicht. Im Zentrum der BSE-Debatte steht nicht "die Gesellschaft", sondern die Fleischtheke. Mit abstrakten Volksreden unter freiem Himmel lässt sich heute gar nichts mehr erreichen.

Kann es denn irgendeine Rechtfertigung für die Tötung von Millionen von Tieren geben?

Ich glaube nicht, dass es dafür eine Rechtfertigung gibt. Man kann Gründe angeben, warum man es tut, doch rechtfertigen kann man es nicht. Man sollte sich bei dieser Frage davor hüten, Begründungen mit Rechtfertigungen zu verwechseln. Man muss die Wunde offenhalten, die jetzt aufklafft. Es gibt ein durch nichts zu beschönigendes Verbrechen gegen die Tiere.

Besteht das Unrecht darin, dass die Tiere um ihr Recht gebracht werden, gegessen zu werden, und stattdessen verbrannt werden?

In dem Argument steckt ein Sophismus. Nein, das Unrecht gegen die Tiere fängt viel früher an. Wenn Tiere, hegelisch gesprochen, von vornherein nur als Sein-für-anderes erzeugt werden, wenn ihr Daseinszweck durch eine restlose, von Achtung leere Konsumtion bestimmt ist, dann ist von Anfang an etwas falsch. Das stellt die Massentierhaltung grundsätzlich in Frage. Massentierhaltung gehört nicht zur bäuerlichen Tradition, sondern ist eine bösartige Synthese aus nomadischen Viehzüchtergewohnheiten und modernem Fleischkapitalismus.

Glauben Sie, dass künftig die Möglichkeiten genetischer Veränderung von Tieren unbedachter genutzt werden? Wird es Tiere à la carte geben? Das würde Ihrer Vision von einer Emanzipation der Tiere widersprechen.

Wir steuern auf eine medikokratische Gesellschaft zu. Es formiert sich zurzeit ein medizinisch-pharmazeutisch-biotechnischer Komplex, in dem um Anteile an den Geschäften mit den großen Vital-Illusionen gerungen wird. Gesundheitseinbildungen, Immunitäts-Illusionen und Langlebigkeitsillusionen sind zum Religionsersatz geworden. Schon heute ist Langlebigkeit eine allgemeine Option. Es dürfen bei modernen Menschen nicht zu viele Rechnungen mit dem Leben offenbleiben, weil sonst ein allzu metaphysischer Überbau hervorgetrieben wird. Die von der bisherigen Medizin mitbewirkte Langlebigkeit nimmt viel vom metaphysischen Druck aus unserem Leben, weil nicht mehr so viele Nachforderungen ans unerfüllte Leben gestellt werden müssen wie im Mittelalter. Der moderne Mensch möchte sterben wie einst Hiob: alt und am Leben satt. Darin liegt die Basis für den medikokratischen Komplex.

Wird es Menschen à la carte geben, auch bizarren Wünschen entsprechend?

Nein, das Ideal der Menschengestaltigkeit wird nicht absichtlich verletzt werden. Man wird Monsterbildungen und Hybridformen nach wie vor als etwas Horrendes empfinden, und die Sperrwirkung des Horrors bleibt wirksam. Man wird den Begriff des Monstrums wieder von seiner Wurzel her verstehen, denn das Wort kommt, wie Etymologen darlegen, nicht vom spätlateinischen monstrare, zeigen, sondern vom klassischen monere, ermahnen. Sie tauchen als Zeichen aus dem Jenseits unter den Menschen auf. Monstren waren Gesandte der Götter, sie trugen ein Apostolat des Entsetzlichen. Durch sie, so dachte man einst, wollen die Götter den Menschen Mahnungen und Winke erteilen. Diese Wahrnehmung des Monströsen wird wahrscheinlich unter verändertem Vorzeichen ziemlich bald wiederkehren. Denn naturgemäß wird es einige Ausreißer aus der allgemein zu erwartenden humanbiotechnischen Besonnenheit geben, und wenn auch manche Versuche möglicherweise gelingen, ist abzusehen, dass viele zu Monstrenbildungen führen. Dann stehen wir vor den menschengemachten Katastrophen der Menschenförmigkeit und werden über diese Mahnungen reden. Das zwingt uns zu einem neuen Niveau von Selbstgesprächen. Das Monstrum ist ein Spiegel unserer Gestalt.

Kann es nicht auch umgekehrt ausgehen: Wenn durch gentechnische Bearbeitung die Menschen immer perfekter werden, sind wir dann nicht die Monstren, wir Übriggebliebenen aus der biotechnischen Vorzeit, die noch auf archaische Weise hergestellt wurden?

Ich nehme Schauerromane und Schauertheorien als das, was sie sind, als Unterhaltungsangebote. Gezielte biotechnische Menschenformung ist nach allem, was wir wissen, auf sehr lange Sicht keine realistische Perspektive. Was da zurzeit bei der Menschenverbesserungspartei diskutiert wird, kommt mir sehr, sehr spekulativ vor.

Haben wir uns gemacht?

Ja, der Mensch ist genetisch ein Kulturwesen, das sich durch den Aufenthalt im Kulturtreibhaus bis in seine biologischen Strukturen verändert hat. Für den biologischen Sonderweg des Menschen ist die Neotenie entscheidend, sprich das Festhalten von Jugendformen, ja sogar von fötalen Bildungen bis in die Erwachsenenstufe. Ich habe Molekularbiologen, aber auch Soziologen getroffen, die nicht einmal den Ausdruck kennen. Zum Beispiel, dass Menschen Gesichter und keine Schnauzen haben, ist ein Kultureffekt.

Relativiert es die Euphorie über die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, dass bestimmte Dimensionen des Menschlichen genetisch nach wie vor unerkannt sind?

Wir können noch lange nicht so viel herauslesen, wie manchmal behauptet wird. Wie man hört, verstehen die Biologen nur ein oder drei Prozent des Genoms. Die deutsche Nobelpreisträgerin Nüsslein-Vollhart ist sogar der Meinung, dass wir nicht ein einziges Gen wirklich verstehen, das heißt in seiner gesamten Wirkung durchschauen. Das Genom verstehen, ist eine Jahrhundertarbeit. Ich denke auch, dass die Genetiker die Kulturphilosophen bald wieder brauchen werden, um neue, intelligentere Fragen an die Gene stellen zu können. Die Befragung des Materials ist zur Zeit durch und durch medikokratisch vorcodiert. Das ist zu eng. Man sucht nach Krankheitsanlagen. Das sind Einbahnstraßen der Forschung.

Sie haben kürzlich ein Gespräch mit dem Genforscher und Genom-Entschlüssler Craig Venter geführt, das uns ein wenig ratlos hinterlassen hat. Sind die Fragen, die wir gerade diskutieren, nicht interessanter als die nach Venters Motivation für seine Forschung?

Das dachten Venter und die amerikanische Botschafterin, die in Lyon dabei war, auch. Aber dabei handelte es sich um ein Missverständnis. Es ging mir nicht um Venters persönliche Motivation. Ich wollte ihn platzieren innerhalb einer Kulturrevolution, die von der Amerikanischen Religion wie Harold Bloom das Phänomen genannt hat, ausgeht. Wir erleben die Formierung einer neuen Hyperideologie für die vernetzte Welt: die Verschmelzung von Börsen-Illusion und Bio-Illusion. Da wachsen die beiden größten Illusionssysteme zusammen, die bisher in der Menschheitsgeschichte aufgetreten sind, das religiös-vitale und das ökonomisch-dynamische. Das erste hat mit dem spirituellen Lebenserfolg zu tun, mit Auserwählung und Segen, mit einer Art von metaphysischer Immunität. Das zweite betrifft den Wirtschaftserfolg, die ich-bildende Genugtuung über wachsende Konten und Statusgewinne. Diese Situation stellt uns eine neue Denkaufgabe: zu begreifen, was geschieht, wenn diese beiden Illusions- und Immunsysteme miteinander fusionieren.

Sie meinen eine Art von Bio-Calvinismus?

Vielleicht ist das der richtige Ausdruck. Weil es höchste Zeit ist, diese Amerikanische Religion oder die entstehende Bioreligion genauer zu beschreiben, habe ich die Gelegenheit genutzt, Craig Venter ein paar Vorschläge zu machen, wie er sich als Träger der Bewegung positionieren könnte. Er hat diese Vorschläge in der Situation von Lyon nicht angenommen. Stattdessen hat er uns mit einer skeptischen Version seiner Selbstdeutung bedient, was keineswegs heißt, dass es nicht auch eine enthusiastische Version gäbe. Ich kenne zwei Reden von ihm, in denen diese deutlich zutage kommt, die eine vom 26. Juni 2000, als er neben Clinton stehend den Blick in die Jahrtausende vorauswandern lässt und sich zu seiner großen Vision bekennt; und eine andere, die er kürzlich vor Vietnam-Veteranen hielt und in der er seine Arbeit darauf zurückführt, dass er den Krieg überlebt hatte und mit seinem geretteten Leben Großes und Wichtiges anstellen wollte. Das zeigt, dass Venter über mehrere Register verfügt. Er kann wahlweise als Pathetiker oder als Agnostiker der eigenen Religion auftreten. In meinen Augen beweist das seine hervorragende Intelligenz.

Venter hat Ihnen gegenüber richtig gehende Metaphysikverweigerung betrieben, bis hin zu der Aussage, er habe das Genom erforscht, weil er sich ein größeres Segelboot kaufen wollte. Verlangten Sie zu viel von ihm?

Wahrscheinlich. Aber wenn die Verführung zum gemeinsamen Philosophieren nicht direkt funktioniert hat, so hat er doch insgesamt außerordentlich geistesgegenwärtig reagiert. Nur zu theoretischen Kunstflügen habe ich ihn nicht bewegen können.

Liegt das daran, dass der tief schürfende, sorgenorientierte Europäer einen fröhlich forschenden Amerikaner befragte? Sind da zwei Kulturen aufeinander getroffen?

Man kann das so sehen. Man soll aber den europäischen Vorteil in dieser Konfrontation nicht unterschätzen. Die Europäer haben in den letzten 100 Jahren gelernt, wie man sich aus dem imperialen Overstretching zurückzieht, während die Amerikaner noch das Missionarische, Naiv-Expansive haben, das zu der Übernahme von Führungsrollen durch Neulinge gehört. Wenn gesagt wird, dass die Europäer ihre weltpolitische Führungsposition eingebüßt haben, sollte man hinzufügen, dass das vielleicht das Beste war, was ihnen passieren konnte. Sie haben ökonomisch eine führende Stelle bewahrt, aber die Nachteile politischer Vorherrschaft abgegeben. Für die gibt es jetzt einen Freiwilligen, der sie entlastet. Überhaupt fühlen sich die Europäer in ihrem milden Fortschrittsskeptizismus viel wohler, als sie zugeben. Die weitverbreitete Amerikabegeisterung geht in Deutschland und Europa nicht tief. Man applaudiert den Amerikanern, aber man möchte nicht wie sie sein. Man lehnt sich etwas zurück, und das ist kein Wunder, immerhin ist der Sessel, in den sich die Europäer zurücklehnen, noch immer ein gut gearbeiteter Chefsessel, einer von den teuren. Man lehnt sich auch nur leicht zurück, um ausgeruhter zu sein und um Entscheidungen besonnener zu fällen. Der europäische Stil von Machtausübung ist diskreter geworden. Das könnte bedeuten, dass er mehr Aussicht auf Nachhaltigkeit besitzt und sich langfristig als überlebenstüchtiger erweist als irgendein naives Vorpreschen und In-Führung-Gehen bei Projekten, von denen man schlechterdings nicht wissen kann, wohin sie führen.

Darum funktionieren hierzulande die Ruck-Appelle auch so schlecht.

Das hat Roman Herzog erfahren, und das werden künftige Apellpolitiker genauso erleben. Die Europäer machen bei bloß voluntaristischen Mobilmachungen nicht mehr mit. Ist das nicht ein großer Vorzug?

Gilt das auch für die gentechnische Revolution? Manchmal spürt man ein Zurückschrecken der Politik vor diesem Thema.

Die Europäer warten auf die Monster wie einst auf die Barbaren. Wir sind auf Zwischenfälle gefasst, an denen sich die gentechnische Euphorie brechen wird. Doch wir wissen, dass es auch ohne Euphorie geht. Alles, was in solide Erfolgsgeschichten eingebaut werden kann, wird aber auch hier Teil der Kultur werden. Den kleinen Schritten des gentechnischen Fortschritts werden sich die Europäer, auch die Deutschen, nicht verweigern. Nur dieses Drachenfliegen über dem Abgrund haben die Europäer im letzten Jahrhundert zu oft betrieben.

Der neue Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin behauptet, Embryonen hätten keine Menschenwürde. Was denken Sie, ab wann ist ein Mensch der Menschenwürde würdig?

Wenn man so fragt, ist man schon auf dem falschen Weg. Man muss einfach wissen, dass das Konzept der Menschenwürde durch und durch von der alteuropäischen Substanzmetaphysik geprägt ist. Wenn man den Begriff schon benutzt, dann sollte man ihn konsequent und das heißt als unteilbar auffassen. Der kleinste Teil einer Substanz ist immer noch die Substanz. Wenn wirklich das Menschenleben geheiligt werden soll, und nichts anderes ist der katholische Sinn der Rede von Menschenwürde, dann sind die frühen Zellen des Menschen so heilig wie die erwachsene Imago. Leider drücken sich die Vertreter dieser Position meistens nicht deutlich aus, weil sie zu feige sind, sich zu einem dezidiert metaphysischen Standpunkt zu bekennen. Die Feigheit erzeugt Verwirrung, die Verwirrung erzeugt Pseudodebatten. Die Rede von Menschenwürde ist ein metaphysisches Sprachspiel, das nur unter seinen eigenen Prämissen sinnvoll ist. Sobald man es in säkulare juristische und moralphilosophische Sprachspiele überführt, gerät es in eine Begründungskrise, aus der es zerrüttet hervorgeht.

Wie soll man dann darüber reden, ab wann ein Mensch ein Mensch ist?

Ich würde lieber das Konzept der Vormundschaft verwenden. Dies ist ein juristisch und psychologisch ausreichend klarer Begriff, der die Vorstellung ausdrückt, dass es zwischen Menschen Verhältnisse gibt, die auch und gerade dann in hohem Maß verpflichtend sind, wenn der eine Pol des Verhältnisses für seine Selbstbehauptung aktuell nicht sorgen kann. Das trifft genau auf die Situation des Kindes zu. Geglücktes menschliches Leben geht aus Vormundschaften hervor. Das erinnert an die unüberwindliche Notwendigkeit der Vormundschaft als Höchstform von Solidarität, auch wenn man sich darauf gefasst machen muss, dass der Begriff eine Menge von neurotischen und autistischen Vorurteilen gegen die Macht der Vormünder auf sich ziehen wird. Ich bin überzeugt, dass eine durchdachte und großzügige Theorie der Vormundschaft uns vor manchen absurden Nebenwirkungen eines überspannten Geredes von Menschenwürde bewahren wird.

Denken Sie nur an Vormundschaften für Kinder, die schon da sind?

Nicht nur an solche. Es gibt wie gesagt auch Vormundschaft für Ungeborene und Niegeborene. In allen Gesellschaften findet ständig eine Art Einwanderung statt. Ich meine hier nicht die von außen, sondern die von innen, die biologische Einwanderung der je neuen Generationen. Diese Einwanderer kommen nicht über äußere Grenzen, sondern durch Mütter. Auch auch da gibt es seit jeher eine Art Einwanderungspolitik. Nie waren den Gesellschaften alle Einwanderer willkommen, weder diejenigen, die von außen kamen, noch diejenigen, die von innen kamen. Bei der biologischen Zuwanderung lag die Rolle der Grenzbeamten seit jeher bei den Müttern; sie spielen die Rolle der Einwanderungsoffiziere, die darüber entscheiden, wer hereingelassen wird und wer nicht; das war und ist ein unvordenkliches Recht der Frauen. Über diese Tatsachen muss man sich verständigen, bevor man anfängt, über Prinzipien zu reden.

Bei den "überzähligen" Embryonen sind die Einwanderungsoffiziere keine Mütter, sondern Ärzte.

Hier kann man die Regel der abgestuften Schutzleistungen sinnvoll anwenden. Sie interpretiert den Spielraum für die frühesten Formen des potentiell menschlichen Lebens, das noch undefiniert und daher auf der niedrigsten Schutzstufe angesiedelt ist. Natürlich hat auch der nur wenige Tage alte Embryo einen Fürsorgeanspruch. Aber da sind eine Reihe von Ausnahmen und Abweichungen zuzugeben. Das liegt in der Natur der Sache, wie man schon an den Naturvorgängen selbst bemerkt. Jede dritte oder vierte Menstruation, sagen Frauenärzte, ist eine Spontanabstoßung aufgrund einer vom Organismus verweigerten Nidation. Doch merken die Frauen in der Regel nichts davon. Sobald der Mutterorganismus die Einnistung zugelassen hat, wird man eine höhere Stufe der Schutzwürdigkeit zugestehen.

Wofür spricht das?

Dass man mit dem Konzept einer gestuften Schutzwürdigkeit den realen Lebensverhältnissen und den moralischen Intuitionen der Menschen näher kommt als mit einem abstrakt allgemeinen Personbegriff, den man nur um den Preis der Unglaubwürdigkeit auf Embryonen im Vierzellenstadium anwenden kann. Faktisch operieren die meisten mit einem Dreistufenschema, das sich bewährt hat: Von Anfang an stehen das befruchtete Ei und der unsichtbare Embryo unter dem Schutz ihrer natürlichen und juristischen Vormünder, die aber noch von einem größeren Bestimmungsspielraum Gebrauch machen können; auf der nächsten Stufe genießt der eingenistete Embryo bereits eine höhere Immunität aufgrund seiner manifesten Präsenz und seiner intimen Begrüßung durch die Mutter; und noch weiter geht die Immunisierung, wenn gegen die Mitte der Schwangerschaft nach traditionellem Verständnis eine Art Beseelungsschub einsetzt; dann schließt sich der Schutzring um das neue Leben völlig; von da an haben wir es mit einem Menschenwesen zu tun, dem niemand mehr seine Daseinsrechte abzusprechen vermag, unter welchen Vorwänden auch immer.

Was liegt vor der Menschenwürde? Integrität?

Auch über Integrität kursieren viele überspannte Vorstellungen. Man redet von der eigenen Integrität des behinderten Lebens, von einem Recht auf Unvollkommenheit, vom Recht gezeugt und nicht gemacht zu werden. In solchen Formulierungen stecken zum Teil sympathische Ideen, aber sie sind mit einer problematischen Tendenz zur Kapitulation vor dem Vorgefundenen verknüpft. Bei allem Respekt vor der Theologie: Die Natur ist als solche schon ein einziger Nachbesserungsprozess und zugleich ein Prozess, der zahllose Gen-Kopierfehler weitertransportiert. Ich lehne die theologische Verklärung von Erbkrankheiten ab, ich glaube nicht an den Gott, der Hasenscharten schuf. Natürlich kann ich es verstehen, wenn viele es skandalös finden, dass demnächst an Embryonen oder schon an den Keimbahn therapeutische Verbesserungen versucht werden sollen. Aber es ist mindestens genauso skandalös, dass überhaupt missgebildete Kinder aus der Hand der Evolution hervorgehen.

Aber wird dann nicht irgendwann alles, was einer immer anspruchsvolleren Idee von Perfektion nicht entspricht, zur Behinderung?

Darin liegt eine Gefahr, doch geht diese nicht von der Gentechnik als solcher aus, sondern vom infantilen Modell-Denken narzisstischer Menschen. Der Perfektionismus der Dummköpfe ist etwas Schauderhaftes. Wie soll man den verbieten? Tatsächlich tauchen zur Zeit vor allem in den USA Vorstellungen von der Züchtung des Superman, eines Robustmenschens oder eines Talentmutanten wieder auf, aber dergleichen ist kulturanthropologisch und moralisch lächerlich, genau so wie auch alle Ideen von der Rückzüchtung des Menschen zum Kampfaffen der Darwin-Ära immer schon absurd gewesen sind. Andererseits muss man schon ein wenig darauf achten, dass keine Gen-Spinner in isolierten Labors angewandte Science Fiction treiben. Aber in der verdichteten Welt sind solche Entwicklungen weniger zu fürchten als manche glauben. Auch Ausreißer werden durch die technologische Community früher oder später resozialisiert. Nur seriöse Gentechniker haben ein authentisches Mandat ihrer Kultur.

Meistens besteht ohnehin keine Chance, den behinderten Embryo zu heilen, weil die Medizin bei der Diagnose viel weiter ist als bei der Therapie. Folglich besteht die Therapie darin, den Embryo zu töten. Verwandelt sich dann nicht das Recht, geheilt zu werden, in ein Recht, nicht existieren zu müssen?

Es werden sich verschiedene Stile von Elternschaft herausbilden. Manche werden wollen, dass die Fortpflanzung vom Schleier des Nichtwissens bedeckt bleibt, andere werden sich mit Möglichkeiten der genetischen Vorsorge intensiv befassen. Die Theorie und Praxis der biologischen Vormundschaft gewinnt an Umfang. Das ist seit der Einführung der Kontrazeptiva ein Trend in unserer Kultur. Die Fürsorge wird auf einen Bereich ausgedehnt, der bisher nicht erreichbar war, weil die technischen Prämissen nicht gegeben waren. Naive Elternschaft wird schwieriger.

Wie der Mensch werden soll, wird entschieden im Gespräch zwischen Medikokraten, wie Sie sagen, und den besorgten oder überbesorgten Eltern. Die führen dann eine rationale Debatte darüber, was die biologischen Voraussetzungen für ein gelungenes Leben sind. Ist das nicht heillos, weil da etwas vernünftig entschieden werden soll, was durch Vernunft nicht entscheidbar ist?

Sie sehen da etwas ganz richtig. Entscheidungen gehen nicht zwingend aus Gründen hervor. Um sie zu treffen, ist immer ein Sprung zu wagen. Der Ernstfall für Ihre Besorgnis würde eintreten, wenn man den Nachwuchs optional gestalten und komplexe Eigenschaften gezielt herstellen könnte. Das ist auf absehbare Zeit eine Fabelei. Die Verhütung von schwersten Erbkrankheiten hingegen, sobald sie medizinisch möglich wird, ist keine heillose Machenschaft, sondern ein Ausdruck von Verantwortlichkeit. Es gibt Grenzsituationen, in denen die Eltern als aufgeklärte Vormünder über die Lebenszumutung als solche entscheiden müssen. Daran führt kein Weg mehr vorbei.

Kann, darf oder muss Politik festlegen, welche Behinderten abgetrieben werden dürfen?

Die Politik kann, darf, muss tun, was sie kann, aber sie tut es nie mehr allein. Sie wird umgeben sein von einer Gesellschaft aus Beratern. Alle Entscheidungen entstehen in Diskussionen, sie bleiben eingebettet in Checks and Balances. Unsere Gesellschaft ist so komplex geworden und so reich an Hemmungs- und Kompensationsmechanismen, dass wirklich große Dummheiten kein langes Leben haben.

Unsere Situation ist wohl eher dadurch bestimmt, dass niemand mehr bereit ist, Normen zu formulieren, die er nicht schon im Akt des Aussprechens relativiert. Es besteht die Gefahr, dass wir in einem diskursiven Brei versinken. In dem könnten durchaus große Dummheiten von allen gemeinsam begangen werden, über die man sich kunstvoll hinwegtäuscht. Braucht man dann nicht Gruppen wie die katholische Kirche, die naiv-klug genug sind, klare Linien zu ziehen?

Was Naivität angeht, sehe ich keine Gefahr, dass sie uns ausgehen könnte. Es kommt immer genügend Ahnungslosigkeit nach, auch an nachrückender Entschlossenheit wird es nicht fehlen. Wichtig ist nur der Ausgleichsmechanismus zwischen den Naivitäten und den Fundamentalismen.

Die Lage der Naivität ist heute viel heikler, weil sie ja, im Falle der Kirche, gewissermaßen aufgeklärte Naivität ist. Sie weiß um ihre Kontur gebende Rolle. Sie zweifelt aber insgeheim schon an sich selbst, während sie sich ausdrückt.

Ich suche darum nach einem umfassenderen Begriff von Naivität. Er muss die Bereitschaft von Menschen, Entscheidungen zu treffen, insgesamt abdecken. Entscheidungsfähigkeit setzt voraus, Aspekte unberücksichtigt zu lassen und Gedanken nicht zu Ende zu denken. Diese Naivität ist unzerstörbar.

Der Staat umgibt sich mit Beratung. Der Bundeskanzler will sich einen nationalen Ethikrat zulegen. Würden Sie daran teilnehmen?

Meine Antwort hängt davon ab, ob Sie mich das fragen oder der Bundeskanzler.

Das Gespräch führten Heik Afheldt und Bernd Ulrich. (Tagesspiegel, 8. März 2001)

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