Das Material der Moral

Geteilte Relevanz: Weshalb die geläufige Begründung des Rechts, Tiere zu töten, unstimmig ist

von Tom Regan - Aus dem Englischen von Martin Hartmann

Im letzten Beitrag zu unserer Tierethik-Reihe (FR v. 8.5., 15.5., 12.6. und 26.6.) widerspricht Tom Regan der Auffassung, dass Tiere deshalb getötet werden dürfen, weil sie unfähig zum bewussten "Vorgriff auf die Zukunft" sind. Regan zufolge ist dieses Kriterium, das Ursula Wolf in der letzten Woche an dieser Stelle vertreten hat, "alles andere als stimmig".

Überall auf der Welt lehnen anständige Menschen Grausamkeit gegenüber Tieren ab. Moralisch gesehen ist es Menschen nicht erlaubt, ohne berechtigten Grund anderen empfindungsfähigen Lebewesen Schmerzen zuzufügen, und es gibt keine angemessene Rechtfertigung dafür, sich am Leiden von Tieren zu ergötzen. Im Gegenteil: Wer sich gegenüber Tieren grausam verhält, ist in moralischer Hinsicht als niederträchtig anzusehen. Was das betrifft, spricht die mitfühlende Menschheit mit einer Stimme, so viel ist sicher. Nun war eine solche Einstimmigkeit allerdings nicht immer gegeben. Logisch betrachtet ist Grausamkeit nur möglich, wenn Leiden möglich ist. Wir können die unbelebte Natur noch so heftigen physischen Angriffen aussetzen - grausam können wir nicht zu ihr sein. Das gilt ebenso für die von Menschen hergestellten Maschinen wie für die belebten Maschinen, als die der Philosoph René Descartes Tiere ansah.

Man stellt Philosophen häufig als benebelte Visionäre dar, die ihren Elfenbeinturm nie verlassen oder sich nie trauen, ihre Arbeit mit alltäglichen Angelegenheiten in Verbindung zu bringen. Descartes' Leben zeigt aber, wie weit diese Karikatur von der Wahrheit abweicht. Eine ganze Gruppe von Vivisektoren - Descartes selbst eingeschlossen - übernahm mit Begeisterung seine Lehre, dass Tiere lebende Körper sind, die nicht fühlen können. Von Nicholas Fontaine stammt der folgende schockierende Augenzeugenbericht über die Praktiken im Port Royal des 17. Jahrhunderts: "Die cartesianischen Wissenschaftler organisierten das Schlagen von Hunden mit vollkommener Gleichgültigkeit und machten sich über jene lustig, die die armen Kreaturen bemitleideten, als könnten sie Schmerz empfinden. Sie behaupteten, die Tiere seien Uhren; die Schreie, die sie ausstießen, stammten von einer kleinen Feder, die berührt worden sei, der ganze Körper aber sei ohne Gefühl. Sie nagelten die armen Kreaturen an ihren vier Pfoten auf Bretter und sezierten sie, um sich die Blutzirkulation anzuschauen, ein Thema, das Gegenstand großer Kontroversen war."

Kaum jemand würde heute daran zweifeln, dass Tiere leiden können. Sowohl der gesunde Menschenverstand als auch die fortgeschrittenste wissenschaftliche Forschung kommen zu diesem Schluss. Die Empfindungsfähigkeit der Tiere - ihr Vermögen, Schmerz und Lust zu spüren - gilt als ein Grund dafür, sie als Mitglieder im moralischen Universum zu betrachten. Mit anderen Worten: Ist unsere Lust und unser Schmerz unmittelbar moralisch relevant für die Frage, was richtig und was falsch ist, dann muss ihre Lust und ihr Schmerz ebenso unmittelbar moralisch relevant sein. Diese Relevanz für uns zu reklamieren, sie gleichzeitig aber den Tieren zu verweigern - das hat etwas Willkürliches an sich. In ähnlicher Weise könnten wir beispielsweise die Lust und den Schmerz von europäischstämmigen Amerikanern für unmittelbar moralisch relevant halten und den Afroamerikanern den gleichen Status absprechen. Ist die willkürliche, auf der Zugehörigkeit zu einer "Rasse" beruhende Diskriminierung ein moralisches Vorurteil (Rassismus) - was zweifellos der Fall ist -, dann kann die willkürliche Diskriminierung, die auf der Zugehörigkeit zu einer Spezies beruht (Speziesismus), nicht besser dastehen.

Nun beschreiben sich in unserem Zeitalter der Aufklärung die wenigsten Philosophen als Speziezisten. Dennoch ordnet die unter Philosophen herrschende Sichtweise die Tiere weiterhin einer anderen moralischen Kategorie zu als die Menschen. Die Antwort auf die Frage, warum das so ist, ergibt sich aus der folgenden Geschichte.

Stellen wir uns Hilda vor. Sie ist (so nehmen wir an) eine liebevolle Ehefrau, eine hingebungsvolle Mutter und erfolgreich im Beruf. Tragischerweise wird sie in den besten Jahren ihres Lebens brutal ermordet. Folgen wir der herrschenden Sichtweise, dann ist Hilda ein Unrecht widerfahren. Schließlich wollte sie weiterleben, ein Wunsch, den ihr Mörder für alle Zeiten zunichte gemacht hat. Indem er ihr das Leben nimmt, indem er ihr die Möglichkeit zukünftiger Erfahrungen raubt, so heißt es, enttäuscht er ihren Wunsch.

Nun ist der Wunsch, weiterzuleben, kein einfacher Wunsch. Damit Hilda weiterleben kann, muss sie in der Lage sein zu verstehen, dass sie gegenwärtig in der Welt ist und dass sie (sollte sie weiterleben) auch zukünftig in der Welt sein wird. Kein Zweifel - um das eine oder das andere oder beides zu verstehen, bedarf es eines hohen Grades an Selbstbewusstsein, ohne das man nicht den Wunsch haben kann, weiterzuleben. Die herrschende Sichtweise geht davon aus, dass die Individuen, die dieses Verständnis haben und die diesen Wunsch teilen, Personen sind; diejenigen, denen beides fehlt, sind es nicht. Hilda hat diese Bedingung, solange sie am Leben war, erfüllt und war dementsprechend eine Person. Hunde aber sind keine Personen, da sie diese Bedingung nicht erfüllen. Sie sind zwar in der Welt und haben ein Bewusstsein der Inhalte ihrer Erfahrung, aber sie besitzen kein Bewusstsein ihrer selbst in der Welt und sind nicht in der Lage, sich selbst zukünftig in der Welt zu sehen.

Da Tiere also als solche nicht den Wunsch haben können, weiterzuleben, kann man diesen Wunsch auch nicht enttäuschen, indem man sie tötet. Die Ermordung einer Person stellt ein unmittelbares Unrecht ihr gegenüber dar, weil ihr Wunsch, weiterzuleben, enttäuscht wird; das Töten von Tieren, die über diesen Wunsch nicht verfügen, kann kein unmittelbares Unrecht an ihnen darstellen. Der herrschenden Sichtweise zufolge fällt also das Töten einer Person unter eine andere moralische Kategorie als das Töten von Wesen, die keine Person sind. Wir tun diesen Wesen kein Unrecht an, wenn wir sie töten, weil sie nicht weiterleben wollen. Das Gegenteil trifft zu, wenn Personen getötet werden. Für die Hildas dieser Welt gilt, dass ihnen als Opfern ein direktes Unrecht widerfährt. Für Hunde gilt das nicht.

Diese Sicht der Dinge hat bedeutsame Implikationen für aktuelle Kontroversen. Betrachten wir etwa die kommerzielle Tierhaltung. Milliarden von Tieren werden jedes Jahr für den menschlichen Konsum geschlachtet. Tierrechtsaktivisten behaupten, dass diesen Tieren durch das Töten Unrecht widerfährt, aber die Anhänger der herrschenden Sichtweise widersprechen: Weil Hühner und Schweine, Kühe und Schafe keine Personen sind, geschieht ihnen, so sagen sie, kein unmittelbares Unrecht, wenn sie getötet werden. Ähnlich verlaufen die Fronten hinsichtlich anderer Praktiken. So sagen Tierrechtler beispielsweise, die Vivisektion tue jenen Tieren Unrecht, die am häufigsten in der Forschung benutzt werden, also Ratten, Mäusen und anderen Nagetieren. Die Anhänger der herrschenden Sichtweise wiederum leugnen das.

Wenn diese Sichtweise stimmig ist, dann kann ein Großteil der institutionellen Ausbeutung, die Tieren durch Menschen widerfährt, tatsächlich gerechtfertigt werden. Nur: Sie ist alles andere als stimmig. Selbst wenn sie in manchen Hinsichten angemessen ist, könnte sie höchstens zeigen, dass die Tötung niemals jenen Tieren ein Unrecht antut, die unfähig sind, ihr Fortleben zu wünschen. Sie könnte aber nicht zeigen, welche Tiere das sind. Wie entscheiden wir eine solche Frage? In Ermangelung einer von Menschen und Tieren gleichermaßen geteilten Sprache bleibt uns nichts weiter übrig, als das Verhalten der Tiere zur Grundlage eines Urteils zu machen. Verhalten sie sich (zumindest einige von ihnen) auf eine Art, die nahelegt, ihnen wäre bewusst, in der Welt zu sein? Haben sie gleichsam ein Bewusstsein davon, ein "Jemand" mit einer eigenen Zukunft zu sein?

Diejenigen, die das Verhalten von nichtmenschlichen Primaten und von Meeressäugern untersuchen, beantworten diese Fragen unisono positiv. Das gilt auch für all die Millionen Menschen, die ihr Leben mit einem Hund, einer Katze oder anderen Begleittieren teilen. Man versuche, ihnen mitzuteilen, ihre tierischen Freunde hätten kein Empfinden dafür, in der Welt zu sein und kein Verständnis ihrer eigenen Zukunft! Was die Schlachttiere angeht oder die Tiere, die zu Forschungszwecken verwendet werden: Nur Unkenntnis und Vorurteil können jemanden dazu führen, die psychologische Komplexität zu leugnen, mit denen diese Tiere der Welt begegnen. Wer hier Zweifel hat, sollte nur einmal einige Grundtexte zum Verhalten der Tiere lesen.

Man kann der herrschenden Sichtweise darüber hinaus auch vorwerfen, in ihren Schlussfolgerungen zu weit zu gehen. Die Aussicht auf eine "humane" Landwirtschaft, die dieser Sichtweise und ihrer Beschreibung des Tötens folgt, mag von jenen als gut bezeichnet werden, die darauf insistieren, Tiere ethisch zu behandeln, noch während sie an ihren Knochen herumnagen. Schon eine kurze Überlegung beweist aber, dass es hier um anderes geht. Die herrschende Sichtweise ordnet nämlich nicht nur Menschen und Tiere in unterschiedliche moralische Kategorien ein, wenn es um die Frage der Falschheit des Tötens geht. Sie tut das gleiche mit einer großen Anzahl menschlicher Wesen.

Betrachten wir die Implikationen dieser Sichtweise für menschliche Säuglinge. Selbst diejenigen, die Kleinkindern eine komplexe Psychologie zusprechen, werden Schwierigkeiten damit haben, in ihnen das Selbstbewusstsein zu finden, das von der herrschenden Sichtweise verlangt wird. Müssen wir dann aber sagen, dass Säuglingen kein Unrecht geschieht, wenn sie getötet werden, bevor sie reif genug sind, um weiterleben zu wollen? Und dass ihnen kein Unrecht geschieht, wenn ihnen ihr Leben genau in dem Augenblick entrissen wird, in dem sie sich am wenigsten selbst schützen können? Folgen wir der herrschenden Sichtweise, dann müssen wir genau das sagen. Es ist schwer, sich eine mangelhaftere, eine obszönere ethische Perspektive auszumalen. Schließlich ist die herrschende Sichtweise nicht stimmig, weil sie logisch fehlerhaft ist. Logisch gesehen gibt es nämlich keine Verbindung zwischen dem (1) Enttäuschen eines Wunsches, den jemand hat, und dem (2) Begehen eines Unrechts gegenüber dieser Person.

Ein Beispiel soll diesen Punkt illustrieren. Stellen wir uns vor, Hans will Heinrich bestehlen. Es ist lächerlich, wenn man nun sagt, wir würden ein direktes Unrecht an Hans begehen, sobald wir ihn daran hindern, seinem Wunsch nachzugeben. Zweifellos hängt die Frage, ob es richtig oder falsch ist, Hans am Umsetzen seines Wunsches zu hindern, an der Moralität dessen, was er zu tun beabsichtigt, und die wird nicht nur durch das Wissen darum bestimmt, was er tun will. So wenig wie das, was er tun will, richtig wird, weil er es tun will, so wenig wird es falsch, weil wir ihn daran hindern, es zu tun.

Was für Hans gilt, gilt ebenso für Hilda. Wir nehmen an, dass sie weiterleben wollte. Wir nehmen auch an, dass ihr Wunsch enttäuscht wird, wenn sie umgebracht wird. Wir müssen aber nicht annehmen, dass ihr Mörder ein Unrecht an ihr beging, weil er ihren Wunsch enttäuscht hat. Ob es richtig oder falsch ist, Hilda an dem zu hindern, was sie zu tun beabsichtigt, hängt von der Moralität dessen ab, was sie tun will, und die kann, wie gesagt, nicht bestimmt werden, indem man weiß, was sie tun will.

Diese Beispiele verdeutlichen eine zentrale Wahrheit: Das Material der Moral besteht nicht aus der Befriedigung oder dem Enttäuschen von Wünschen. Der fundamentale Fehler der herrschenden Sichtweise besteht, in logischer Perspektive, darin, dass sie das nicht sieht. Diese Einsicht erlaubt wichtige Folgerungen mit Blick auf die Beurteilung der Moralität des Tötens. Die wichtigste ist: Weil die herrschende Sichtweise fehlerhaft ist, spielt sie keine Rolle, wenn es um die Frage geht, wann, wenn überhaupt je, das Töten von Menschen, ob es sich um Personen handelt oder nicht, ein direktes Unrecht an den Opfern ist.

Nun erstellt die Logik keine Ranglisten. Sind die vorangegangenen Überlegungen mit Blick auf Menschen wahr, dann sind sie es auch mit Blick auf die Frage, ob Tieren ein Unrecht widerfährt, wenn sie getötet werden. Auch hier spielt die herrschende Sichtweise keine Rolle. Zugegeben, all das zeigt noch nicht, dass wir Tieren Unrecht antun, wenn wir sie töten. Es zeigt aber sehr wohl, dass die gängige philosophische Begründung dafür, dass das nicht der Fall ist, die Standards adäquater Beweisführung unterläuft. Wer den Urteilen der Tierrechtsbefürworter widersprechen will, sollte sich dementsprechend woanders umsehen (Frankfurter Rundschau, 03. Juli 2001).

Hinweis: Pressemeldungen entsprechen nicht unbedingt den Tatsachen und geben daher nicht notwendigerweise die Ansichten von veganismus.de wieder.


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