Demonstratives Anketten ist Gewalt

von Christian Rath

Verfassungsgericht mit neuem Sitzblockaden-Spruch: Wer durch Hilfsmittel eine "physische Barriere" schafft, übt Gewalt aus. Zwei Sondervoten

Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung zum Demonstrationsrecht präzisiert. Danach gelten Blockaden bereits dann als "Gewalt", wenn sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anketten. Als Nötigung muss dies aber nur dann bestraft werden, wenn die Gesamtumstände "verwerflich" sind.

Der gestern veröffentlichte Beschluss war am ersten Senat hoch umstritten, ein Sondervotum fand ihn zu lasch, ein anderes zu streng. Konkret hatte das Gericht zwei Fälle zu entscheiden. Bei einer Autobahnblockade von 600 Roma im Jahr 1990 war sich der Senat noch einig: Diese ist nicht vom Demonstrationsrecht geschützt.

Die Roma hatten damals versucht, in die Schweiz einzureisen, um beim UN-Flüchtlingskommissar gegen ihre drohende Abschiebung aus Deutschland zu protestieren. Als die Schweiz die Einreise verweigerte, sperrten die Roma mit ihren Fahrzeugen kurzerhand die Autobahn für 29 Stunden. Nach Auffassung des Gerichts ging es hier nicht mehr um die Kundgebung einer Meinung, sondern darum die Einreise in die Schweiz zu ertrotzen.

Uneinig war sich das Gericht aber im Hinblick auf den zweiten Fall. Hier hatte eine Aktionsgruppe von AKW-Gegnern 1986 die Zufahrt zum Baugelände in Wackersdorf blockiert, indem sich rund 10 Personen aneinander und an das Tor der Anlage anketteten. Vor sechs Jahren hatte das Verfassungsgericht entschieden, dass die bloße Anwesenheit in Form einer Sitzblockade noch keine Gewalt darstellt. Diese Rechtsprechung wollte der Senat nun aber nicht auf Fälle erstrecken, bei denen sich die Teilnehmer einer Blockade anketten und damit mehr als psychischen Zwang ausüben.

Vielmehr liege hier auch eine "körperliche Kraftentfaltung" vor, weil die Demonstranten einem sich nähernden Fahrzeug nicht mehr ausweichen können und auch die Räumung der Straße erschwert werde. Das Gericht stellte aber klar, dass die Ausübung von "Gewalt" nicht automatisch zu einer Verurteilung wegen Nötigung führe. Bei einer Abwägung, ob das Handeln "verwerflich" war, müsse auch das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit in Rechnung gestellt werden. Eine bloße Blockade sei nicht "unfriedlich". Zu berücksichtigen sei bei dieser Abwägung unter anderem auch, wie dringend die blockierten Transporte seien und ob es Umleitungsmöglichkeiten gebe.

Im vorliegenden Fall stellte Karlsruhe zwar fest, dass die Demonstrationsfreiheit von den Strafgerichten zu gering bewertet wurde, dass sich dies aber nicht auf die Höhe der Strafe (es gab nur eine Verwarnung) ausgewirkt habe. Diesen Ansatz kritisierte die konservative Richterin Evelyn Haas in ihrem Sondervotum. Wenn Demonstranten "Gewalt" gegen Privatpersonen ausüben, könne dies nicht vom Grundgesetz geschützt sein.

Die liberalen Richter Brun-Otto Bryde und Renate Jaeger griffen den Beschluss dagegen von der anderen Seite an. Die bloße Selbstfesselung könne nicht als Gewalt bezeichnet werden. Die WAA-Blockierer hätten deshalb freigesprochen werden müssen. Die Entscheidung hat keine Auswirkung auf die Praxis des Bundesgerichtshofs, auch reine Sitzblockaden weiter als Nötigung zu bestrafen. Die vorliegenden Fälle böten keinen Anlass, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, erklärte das Gericht. (Az. 1 BvR 433/96 und 1190/90) (taz, 20. Dezember 2001)

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